Ein Wunder reicht nicht. Auch ein zweites, 3. und 4. Wunder, so scheint es, vermag die Welt nicht zu retten. So vieles ist doch schon getan und geschehen: In Kapitel 8 und 9 lesen wir bei Matthäus von nicht weniger als sieben Heilungswundern. Vermutlich waren es sogar noch viel mehr, wenn es hier heißt, dass Jesus umherzog und generell alle Krankheiten und alle Gebrechen heilte. Doch das ändert nichts an der traurigen Bilanz:
Das Volk ist weiterhin „geängstet“ und orientierungslos. Die Menschen, trotzdem sie Zeugen wurden von unglaublichen Wundern in Gottes Gegenwart, sie geben im Großen und Ganzen noch immer ein beschämendes, bedrückendes Bild ab. Auch noch so viele weitere Wunder, so scheint es, können ihnen nicht helfen.
Nun, dass heillose Zustände in der Gesellschaft beklagt werden, ist nichts Neues. Und wir Deutsche jammern ja bekanntlich besonders gerne: So ein Lamento am Kaffeetisch oder im Kollegenkreis, das zeugt immerhin von Kennerschaft und Überlegenheit. Ein Kritiker überblickt die Lage von hoher Warte aus, er genießt dabei die Bewunderung und Bestätigung seines Publikums und darf sich obendrein als von schweren Zeiten hart geprüfter Mensch in wohltuendem Selbstmitleid ergehen.
So erleben wir heute eine freie Demokratie voller kleiner Kanzler und Könige, in unseren Betrieben arbeiten lauter verkappte Experten und Strategen, Millionen Trainer begleiten die EM am Fernseher, und wenn ich mir manchen Leserbriefe in der Kirchenzeitung anschaue, dann haben wir mittlerweile eine evangelische Kirche, wo das Priestertum aller Gläubigen abgelöst wurde durch ein allgemeines Papsttum, weibliche Form und Unfehlbarkeit natürlich eingeschlossen. Die Jünger waren darin übrigens nicht viel besser, das lässt sich an vielen Stellen der Bibel nachlesen: Auch sie waren überaus anfällig für Eitelkeiten, Hochmut und litten unter manch geistiger Fehlzündung.
So viel Gottvertrauen und Kühnheit kann sich unsereiner gar nicht ausdenken, wie Jesus sie nun in dieser Situation beweist: Nicht nur, dass er angesichts dieser Misere nicht resigniert, sondern weitermacht, sich wieder und wieder Menschen zuwendet und ihnen Heilung schenkt. Nein, er sendet ausgerechnet auch noch diese seine Jünger los, dass sie als Bevollmächtigte Gottes, also gleichsam im Auftrag des Herrn in der Welt „unreine Geister austreiben und Krankheiten heilten“. Damals waren es nur zwölf: Aber wir wissen ja, wie es weiter ging, so lange liegt Pfingsten noch nicht zurück!
Eine Berufungsgeschichte wird hier erzählt. Menschen, wenn auch nicht die kompetentesten Vertreter ihrer Gattung, treten in die Nachfolge Jesu, gehen hinaus, verstreuen sich in alle Welt, um die zerstreuten Kinder Gottes zur Gemeinschaft zu führen. Und trotz Kirchenspaltungen, Konfessionskriegen, Mitgliederschwund und Strukturreform: Das hat erstaunlich gut funktioniert und tut es noch immer, sonst wären die meisten von uns heute nicht hier.
Liebe Gemeinde, wir könnten jetzt viel reden über unterschiedliche Aufgaben und Wege von Mission, über Öffentlichkeitsarbeit oder die Besetzung von Pfarrstellen. All das sind zweifellos wichtige Themen. Dennoch steht für mich etwas anderes im Mittelpunkt unseres Predigttextes: Unsere Berufung. Unser Amt. Unser Hunger nach Wundern. Unser Heilwerden; oder wie der Text es formuliert: Unsere Arbeit und unsere Ernte.
Mit der Berufung und Aussendung der Zwölf lässt Jesus seinen Jüngern keine andere Wahl, als ihre Blickrichtung zu ändern – auch dies eine Form von „Umkehr“, wenn sie so wollen: Meckern und schlechtreden kann jeder, nur: Dadurch wird die Welt bestimmt nicht besser! Und wie die Welt wirklich ist, was Menschen in ihr bewegt, so zu handeln und zu denken wie sie es nun einmal tun – das erfährt man am besten, wenn man bei Ihnen ist, ihre jeweils ganz persönliche Sichtweise nachvollziehen lernt und sie ein Stück auf ihrem Weg begleitet.
Es macht einen großen Unterschied, ob ich über Menschen rede oder mit ihnen. Und es macht einen noch weit größeren Unterschied, ob ich dabei nur meine eigenen Weisheiten abstrahle oder ob ich auch Worte übernehmen darf, die mehr Tiefgang haben, als ich ihnen geben könnte, die über meinen begrenzten Horizont hinausragen:
„Ach, glauben Sie da denn selber dran?“ – eine Frage, die nicht nur Pfarrern gestellt wird, z.B. nach einer Beerdigung und der dort gehörten, gesprochenen Auferstehungsbotschaft. Und auch Pfarrer werden von so einer Frage kritisch herausgefordert, genau wie ich: Ich glaube, ja, und ich bekenne die Sätze im Glaubensbekenntnis frei und ohne Scheu. Aber zugleich weiß ich zu gut, dass da auch Unsicherheiten in mir sind, Zweifel, Launen, Schwäche.
Mein persönlicher Glaube, soweit es an mir liegt, unterliegt starken Qualitätsschwankungen. Er ist ein allzu dünnes Eis, um Kathedralen darauf zu bauen oder verlässlich die Hoffnungen vieler Menschen zu tragen; er ist zu brüchig, um eine dauerhaft tragfähige Grundlage zu sein für mich und andere. Ich denke, bei den zwölf Jüngern damals war das nicht viel anders. Und wie ist es bei Ihnen?
„Die Sendung der Schwachen“, so könnte man diesen Predigttext auch überschreiben. Hier ziehen keine glühenden Missionare ins Feld, die mit der Bibel alle Fragen erschlagen wollen. Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig: Hier tragen viele Einzelne die Fundstücke ihres persönlichen, unvollständigen Glaubens in die Welt zu anderen Menschen.
Sie haben den Geschmack des Zweifels noch im Mund, ihnen klopft noch das Herz angesichts eines Wunders, sie kennen noch die Mühe langer Wege, das Deprimierende von Sackgassen und Enttäuschungen. Das ist die Maserung des Holzes, aus dem Gott seine Botschafter schnitzt: Menschen, die das Heilende des Evangeliums glaubhaft bezeugen, gerade weil ihnen Schmerz und Not nicht unbekannt und fremd sind.
So, wie Gott in die Welt kam in einem kleinen Kind in einem schäbigen Stall, so kommt er zu den Menschen durch uns. Er stört sich nicht an unseren Fehlern und Macken. Die Wahrheit ist in ihm, und die Kraft kommt von ihm, damit wir die Wege gehen können, auf die er uns schickt. Den einen führen sie zu großen Aufgaben, den anderen stellen sie unspektakulär in den allergewöhnlichsten Alltag. Gottes Werk ist es hier wie dort: an uns, mit uns, für viele.
Liebe Gemeinde, ein Wunder reicht da nicht. Und die Stärke der Kirche sind ja auch nicht ihre Gebäude, genauso wenig wie die Vielzahl der Gruppen, Kreise, Gemeindeveranstaltungen oder Planstellen: Sie alle sind nur ein Ausdruck von der Bewegung des Glaubens, die von Gott kommt, uns Menschen mitnimmt und wieder zu ihm führt.
Gemeinschaft vor Gott, das gelebte Zeugnis, ist darum auch ein ständiges Wechselspiel: Die Zuneigung anderer stärkt das eigene Herz, Großzügigkeit lockert den Druck und schafft Luft zum Atmen, Hoffnung verliebt sich wieder ins Gelingen: Wo können wir etwas bewegen? Was bewegt uns? Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen: Wir sind noch nicht am Ziel, längst nicht mit allen Fragen fertig. Aber wir sind von Gott auf einen guten Weg gerufen!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.