Zeugenaussage

Theologen und Juristen haben vieles gemeinsam: Zum einen haben sie Statistiken zufolge die geringsten Hemmungen Fachbücher aus der Unibibliothek mitgehen zu lassen, zum anderen müssen sie sich beim Studium mit der Kunst der Hermeneutik, der Auslegung befassen.

Wie wichtig dies ist, merken Sie spätestens bei einem Rechtsstreit: „Das steht doch so im Gesetz!“ – ja? Wirklich genau so, oder nicht doch ein bisschen anders? Was ist der zugrundeliegende Zusammenhang, was der übergeordnete Sinn? Neben Fachwissen ist Fingerspitzengefühl gefragt, wenn es vom toten Buchstaben, vom bloßen Wortlaut zur konkreten Aussage und hoffentlich dann gerechten Urteil kommen soll!

Wir Christenmenschen geraten manchmal in Streit, wenn es um die Auslegung der Bibel geht: „Das steht doch so in der Schrift!“, heißt es dann, als sei damit alles entschieden. Was ein Bibelvers aber in mir oder einem anderen für Vorstellungen weckt, wie unterschiedlich so ein griechischer oder hebräischer Ursprungstext zu übersetzen ist, oder was dem Verfasser zu seiner Zeit vor Augen stand, das alles muss auch gesehen und gewichtet werden.

Die besten Hermeneuten und damit auch Kommunikationsprofis sind meiner Erfahrung nach jedoch weder Juristen noch Theologen, sondern alte Ehepaare: Wer mit einem anderen Menschen schon lange Zeit zusammenlebt und den Alltag bewältigt, der weiß nur zu gut um die unzähligen Fallstricke des Redens, des Hörens und gründlichen Missverstehens!

„Ja, Schatz“ – das ist die bescheidene Kunst gleichgültigen Gewährenlassens. Manchmal muss auch überhaupt nichts gesagt werden: Meine Frau braucht mich oft nur anschauen und weiß schon genau, was ich sagen will (was umgekehrt noch nicht so funktioniert). Ja, und manchmal wird auch diskutiert und hart gerungen, wenn große Ausgaben, weitreichende Planungen oder unterschiedliche Auffassungen zu klären sind. Das ist dann der weniger schöne, aber nicht minder notwendige Teil, wenn die Gemeinschaft gut funktionieren soll.

Des anderen Sprache sprechen und dabei noch verstanden werden, über den reinen Wortsinn hinaus – das ist das eigentliche große Wunder, nicht nur zu Pfingsten! Wenn ich mir die heutzutage gepflegte Diskussionskultur im Fernsehen oder im Internet anschaue, so scheint es mir tatsächlich schon ein großes Wunder, wenn Verständigung überhaupt mal gelingt: Wenn bei unterschiedlichen Auffassungen nicht gleich die Fronten unerbittlich verhärten, wenn es nicht gleich zu empörten Beißreflexen und knallharten Verurteilungen kommt.

Liebe Gemeinde, was feiern wir zu Pfingsten? Nur eine schöne Erinnerung an ein verblasstes Wunder aus vergangenen Tagen? An gute alte Zeit, wo Christen im lebendigen, fruchtbaren Dialog mit ihrer Umwelt standen? Können wir wie beim Licht zu Bethlehem in der Adventszeit auch heute ein bisschen Pfingstfeuer mitnehmen und in unsere Wohnstuben bringen?

Wir sollten uns dabei freilich nicht verheben – das taten die Jünger damals auch nicht: „Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer“, so lesen wir. Also durchaus Menschen mit einer gewissen Sympathie und Affinität zu dem, was die Jünger da sprachen: Die Verblüffung galt aber vor allem ihren plötzlichen Fremdsprachenkenntnissen, weniger der eigentlichen Botschaft. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es darüber dann auch im Nachgang noch mancherlei Diskussionen gab.

Nicht die Buchstaben, die einzelnen Wörter, sondern der sie verbindende Geist war es, der Verwunderung auslöste. „Voll süßen Weins“, so sahen es die Spötter, das war offenbar ihre sehr beschränkte Vorstellung von fröhlicher Gemeinschaft. Andere entsetzten sich hingegen oder waren schlicht ratlos, was sie immerhin sehr menschlich erscheinen lässt.

Aber keiner ist damals aufgesprungen und hat so etwas gerufen wie „Ah! Jetzt verstehe ich alles und lasse mich taufen!“ Das kam erst viel später, lange nach der Predigt des Petrus. „Als sie aber das hörten“ so lesen wir weiter hinten in der Apostelgeschichte, da „ging’s ihnen durchs Herz“, und sie fanden ihren Weg in die christliche Gemeinde.

Die Herzen bewegen – das ist die große Kunst! Eine Geschichte, eine Erzählung, ein noch so beeindruckender und wahrheitsgetreuer Bericht allein reicht da nicht. Der richtige Ton, die richtige Sprache – ja, auch das ist unerlässlich, sonst mute ich meinem Gegenüber zuviel zu oder riskiere Fehldeutungen. Glaubhafte Zeugen wie die Schar der Jünger, ein guter Prediger wie Petrus, ein ansprechendes Drumherum – auch das scheint notwendig, damit so etwas Großes wie der persönliche Glaube ausstrahlt, einladend wirkt und andere erreicht.

Aber in alldem – in der Form, in der Sprache, in der Gemeinschaft und im persönlichen Einstehen für den Glauben – reicht das einzelne Element für sich genommen nicht aus, sondern es muss dabei etwas Verbindendes spürbar werden, wie beim alten Ehepaar: „Ja, Schatz“ – Na gut, etwas brennender im Geiste sollte es schon sein!

Feuer bekommt das Ganze vor allem dann, wenn ich nicht nur aus mir selber schöpfe: Wenn ich durch die Augen meines Gegenüber Neues entdecke, mir meine gewohnten Vorstellungen und Rituale auch mal durcheinanderbringen lasse, wenn ich Zutrauen und Vertrauen schenke – dann geht ein frischer Wind durch mich hindurch und weckt neue Lebenskräfte.

Schade, wenn wir uns als Gesellschaft oft erst nach großen Krisen wieder darauf besinnen. Schön, wenn daraus dann etwas Gutes erwachsen kann. Ungekannte Sprachen und Sitten, nie gehörte Klänge, unerforschte Wege: Gerade wir Christen sollten eigentlich darin bewandert sein, denn damit umzugehen wurde unserer Kirche zu Pfingsten in die Wiege gelegt!

Zugegeben: Manches daran ist anstrengend, ob in der Gemeinschaft der Gläubigen, in Politik und Gesellschaft oder im ganz Privaten. Gerade dann ist es wichtig, das Verbindende in den Blick zu nehmen, also das, was wir nicht allein verantworten können und müssen:

Da sind die Schwestern und Brüder im Glauben, genauso unvollkommene Zeugen der Hoffnung wie ich. Da sind aber auch ihre ganz eigen geprägten Lebensgeschichten und Erfahrungen, ihre in Jahren gewonnenen Überzeugungen und ihre bewegten Herzen. Da ist zumeist ein guter, liebevoller Umgang, der mich nicht drückt und drängt. Und da ist neben und über all den menschlichen Begegnungen Gott – Gott, der sich als Wort, als Begriff, als Vorstellung so schwer mit meinem begrenzten Verstand fassen lässt.

Gott, der mir ein Gegenüber ist in seiner meist wunderbaren, manchmal erschreckenden Schöpfung, zu der auch ich gehöre. Gott, der Mensch geworden ist in Jesus Christus, der mich und uns alle nur zu gut kennt und in die tiefsten Tiefen hinabgestiegen ist, um uns als seine Kinder aus aller Verlorenheit wieder ans Licht zu bringen. Gott, der als Geist inmitten dieser Welt „wirkt und schafft“, uns in Bewegung hält, der uns heilsame Anfechtung bringt und einen Trost, wie ihn die Welt nicht geben kann.

Gottes Geist nagelt mich nicht fest, zwingt uns als Menschen kein starres Raster auf, sondern öffnet den Raum vielmehr unendlich weit, damit der Glaube darin wachsen und sich entfalten kann zur vollen Größe. Unvorstellbar, fremd? Ja, nach unseren bescheidenen Maßstäben ganz sicher. Doch gewiss nicht nach dem Maß, mit dem Gott uns misst.

Zu Pfingsten feiert die christliche Kirche nicht das Beharren, sondern den Aufbruch: Nicht ihren Bestand, sondern ihre Berufung. Es geht um die neue Schöpfung. Zu Pfingsten sind wir eingeladen, Gottes Botschaft von Kreuz und Auferstehung, vom neuen Leben neu zu fassen und voll Zuversicht in die Welt zu tragen als eine in seinem Geist gesegnete Gemeinschaft.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft…