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Zerrissener Himmel

Dies ist nun schon der zweite Adventssonntag mit einem alttestamentlichen Predigttext, wieder mit einem Prophetenwort, auch er geschrieben an trüben Tagen vergangener Zeiten. Nun, was die Großwetterlage betrifft, passt er für uns heute sicher gut! Noch ist nicht richtig Winter, noch ist nicht Heiligabend.

Lang wird er uns, dieser Advent – auch diesmal wieder ohne Weihnachtsmärkte, ohne Glühwein und Langos-Buden, ohne den geliebt-gefürchteten Rummel mit allerlei Vorbereitungen und Besorgungen.

Das sind natürlich alles Luxusprobleme, verglichen mit der Lage eines Jeremia, dessen Land erobert war und dessen Bevölkerung zu großen Teilen im Exil leben musste. Bei Jesaja, in dem Teil, aus dem unser Predigttext stammt, sah es schon ein wenig besser aus: Man war wieder in der alten Heimat, hatte wieder ein politisches und geistiges Zentrum in Jerusalem. Doch umso schmerzlicher war nun der Kontrast zu den einst so hohen Erwartungen:

Von Sicherheit und Wohlstand konnte man weiterhin nur träumen. Auf Gott, der sich nach den Worten der Propheten einst in Glanz und Gloria zeigen sollte, zupackend, weltumstürzend, auf den konnte man nach wie vor nur hoffen – wenn man es denn noch konnte, wenn man nicht längst müde geworden war, erschöpft, enttäuscht und innerlich leer.

Auch Jesaja findet hier nur Kraft zur Klage: „So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.“ Großes Weh und Ach begegnet uns in diesen Worten, himmelweit entfernt von der Hochstimmung, die wir sonst mit der Adventszeit verbinden.

So viel Seufzen, so viel Traurigkeit: So richtig verklungen sind solche Rufe freilich noch nie! Ich erinnere mich an meine unangenehm lange Wurzelbehandlung beim Zahnarzt, während direkt vor der Praxis ein Karussell unablässig „Jingle Bells“ spielte, wie zum Hohn. Ich denke an die Gedenkfeiern für verstorbene Kinder, weltweit und auch hier in Plauen an jedem 2. Sonntag im Dezember. Ich sorge mich um den Leichtsinn mancher Mitbürger in diesen Tagen und um die zermürbende Schwerstarbeit von Ärzten und Pflegern in den Krankenhäusern. „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab…“

Es sind nicht wenige Menschen, die sich in diesen Tagen zurückziehen, weil es ihnen zu viel wird. Mein Vater starb vor fünf Jahren ganz unerwartet an Heiligabend, und ich weiß noch genau, wie schwer sich von da an meine Mutter mit der Adventszeit tat – ausgerechnet sie, die sonst eine Meisterin war im Schmücken, Dekorieren und Feiern. Aber nun war es anders: Nichts mehr wie früher, und das Neue – wie soll das jetzt aussehen, wie soll das gehen?

Wie haben es die Israeliten geschafft, ihre schwere, dunkle Decke abzustreifen und neu anzufangen? Die Verbindung zur guten alten Zeit, sie war zu lange unterbrochen gewesen, um einfach wieder daran anknüpfen zu können. Zu prägend gewesen war die Erfahrung von Heimatlosigkeit, zu viele Brüche hatte es gegeben. Und Schuld daran hatten leider nicht nur die bösen fremden Herrscher, also „die da oben“: Da waren auch Mitmenschen, die sich verändert hatten. Da war auch viel eigenes Versagen.

Im Rückblick wäre hier musikalisch wohl eher ein Requiem angebracht, oder jenes populäre, oft auch in der Kirche gesungene „broken Hallelujah“: Dieses Lied erzählt ebenfalls von großen Hoffnungen, von gebrochenen Beziehungen, von Narben auf der Seele. Der Übergang in etwas Neues fällt immer schwer. Die Zeit zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“, sie ist immer lang. Sie ist eine Lebensaufgabe, und echte Herausforderung für unseren Glauben!

Klarheit ist gefragt, und unser Predigttext lädt dazu ein: Nicht wegschauen, ignorieren oder verleugnen, sondern zu dieser Spannung stehen – einer Spannung, die weit mehr bedeutet als die frohe Erwartung von Kindern auf ihre Weihnachtsgeschenke. Unsere große Sehnsucht, unser Glauben verdient diese Klarheit, wenigstens ab und zu sollten wir uns ihr stellen und es Gott vorhalten, was uns beschwert, unbedingt neu werden muss in unserem Leben!

„Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren“ – denen, die sich nicht billigem Trost und Ablenkungen abspeisen lassen. Denen, die sich einen klaren Blick bewahren für die Verhältnisse in der Welt, in der Familie, in der Gesellschaft. Denen, die darum weiter Ausschau halten auf Gott, auf nichts Geringeres hoffen als auf seine Schöpfermacht und seine alles, wirklich alles überwindende Liebe. Das entlastet uns und andere, das gibt unseren Fragen Raum und unseren Wegen Ziel und Sinn.

Advent, das ist nicht die Zeit der vollendeten Herrlichkeit, auch nicht die Zeit, da aller Kummer schon gestillt und überwunden ist. Advent leitet über vom Ende des Kirchenjahres in das Kommen unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus. Eine Zeit der Offenlegung, des Aufdeckens und des Aufrichtens. „Zurück auf Los“ – aber diesmal, für die Wochen und Monate des neuen Kirchenjahres mit anderen Spielregeln als die, nach denen die alte Welt sonst spielt!

„Da wollen wir all danken dir, unserm Erlöser, für und für; da wollen wir all loben dich zu aller Zeit und ewiglich“ – so lautet die letzte Strophe des vorhin nach der Lesung gehörten Liedes „O Heiland, reiß die Himmel auf“, EG 7: Vor 400 Jahren schrieb es der Jesuitenpater Friedrich Spee in Anknüpfung an unseren Jesaja-Text und am Beginn des 30jährigen Krieges.

Es war zugleich das Zeitalter der Hexenverfolgungen, gegen die sich Spee mit all seiner Kraft wandte und den Opfern zumindest als Beichtvater beistand. So war er unmittelbar Zeuge ihrer schrecklichen Not, ihrer Schreie, wie auch des entfesselten Geifers und Hasses, der da über die Frauen kam. Wie oft mag er wohl angesichts brennender Scheiterhaufen gedacht haben: Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab…

Wir feiern Advent. Mit dem Volk, das im Dunkeln wandert, schauen wir aus nach dem Licht, das uns nach Bethlehem führt, dem Reich des Friedens, der Rettung aus heillosen Zuständen entgegen. Wir feiern Advent und gehen auf Heiligabend zu, getragen vom Glauben, dass Gottes Wort Fleisch geworden ist, um unter uns zu wohnen. Es ruft uns in die Nachfolge, hält uns in tröstlicher Gewissheit.

Die Botschaft des Advent, das Engelswort, das sich im Kind in der Krippe, am Kreuz von Golgatha, im Auferstandenen erfüllte: Es füllt seit damals die Leere so vieler Herzen, stärkt die Hände so vieler Menschen und macht diese lange, manchmal so schwere Zeit des Wartens endlich zu einer guten Zeit. Bereiten wir ihr den Weg!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinn in Christus Jesus. Amen