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Zeichensprache

Ich erinnere mich gut an die Zeit, als mein älterer Bruder schon aus dem Haus war und meine Eltern gelegentlich auf Konzertreisen gingen. Neben den gemeinsamen Familienurlauben bildeten solche Tage, an denen ich alleine zu Hause „einhüten“ musste, eigentlich immer den Höhepunkt meiner Schulferien: Endlich „sturmfreie Bude“!

Natürlich hatten mir meine Eltern jedes Mal so einige Versprechen abgenommen: Vergiss nicht, die Blumen zu gießen, schau nicht so lange fern, täglich Klavier üben usw. Sie kennen wahrscheinlich selber solche Dialoge, wo sich das Vertrauen ins Verantwortungsbewusstsein der Kinder mit allzu guter Kenntnis menschlicher Schwächen vermischt!

Und so können Sie sich auch sicher gut vorstellen, wie sich solche freien Tage in meinem Elternhaus letztlich gestalteten: Die kleinen Verpflichtungen traten immer mehr zurück, und aus den kleinen Freiheiten wurden immer größere. Kurz vor der Wiederkehr der Eltern dann ein gewaltiger Kraftakt, um alles wieder gerade zu rücken: Sinnloses Wässern der mittlerweile vertrockneten Blumen, stundenlanges Klavierüben, um kleine Fortschritte zeigen zu können, unauffälliges Entsorgen von viel zu viel Schokoladenpapier und leeren Chipstüten.

Dann war es vorbei mit dem „herrlichen Leben“, dann war mir aber meist doch auch etwas wohler: Der Alltag nahm wieder klare, vertraute Formen an, die enger bemessene Freizeit wurde viel bewusster erlebt und viel aktiver gestaltet. Und außerdem würden ja irgendwann wieder Ferien sein… Solche „Bewährungsproben“ scheinen mir für Kinder wichtig: Nur so spüren sie, dass wir den Heranwachsenden etwas zutrauen, nur so entdecken sie aber auch (ohne elterliches Dreinreden), dass sie ihr Leben noch nicht so in den Griff bekommen wie die Erwachsenen, auf die sie deswegen noch angewiesen bleiben.

Einsicht in die Notwendigkeit von Regeln und Regelmäßigkeit, Bereitschaft, auch Lästiges zu erledigen, und die Konsequenz, sich nicht von jeder Neigung ablenken zu lassen – das ist es, was man als „Erwachsenwerden“, als Reifung
und innere Festigung eines Menschen bezeichnet. Ein erwachsener Mensch braucht i.d.R. die mahnenden Worte der Eltern nicht mehr, er muss vielmehr neue Wege erschließen, ja er muss dann seinerseits zum Halt werden für Hilfsbedürftige und Schwache. Ein solcher Mensch gebraucht seine Freiheiten sinnvoll und macht sich nicht zum Spielball beliebiger Möglichkeiten.

Doch „wahrlich, wir leben in seltsamen Zeiten“: Wir müssen heute mitunter zusehen und erleben, wie selbst kleinen Kindern Unglaubliches zugemutet wird – Kinder, die morgens vor ihren Eltern aufstehen, um sich und ihre Geschwister zu versorgen, da sie ja zur Schule müssen. Oder Kinder, deren Zimmer voller Technik und modernem Spielzeug sind, über dessen maßvolle Benutzung jedoch niemand wirklich wacht. Oder Kinder, die in einer unüberschaubar gewordenen Welt aufwachsen und sich darin „ganz unbeeinflusst“ ihren Weg zum Glauben und zu Gott suchen sollen. Und ich verkneife mir an dieser Stelle einen Ausflug in die sog. „Erwachsenenwelt“, die manchmal viel eher wie ein großes Kinderzimmer anmutet: Vergnügungssüchtig, bunt und lärmend, als wäre das Leben eine einzige Party.

Es ist schwerer geworden, Verantwortung zu tragen – unter all den verlockenden Angeboten des modernen Lebens ist es z.B. nicht mehr das Naheliegendste, Familien zu gründen, Kinder großzuziehen oder sich um Alte und Kranke zu kümmern. Manchmal muss man sich dafür sogar entschuldigen bei denen, die dafür wie auch für anderes kaum Verständnis haben – etwas ohne Gegenleistung zu tun, die Freizeit einzusetzen für gemeinschaftliche Anliegen: Das alles erleben wir zwar an vielen Stellen gerade auch in der Kirche – aber wir vermissen es an anderen Stellen umso schmerzlicher.

Es ist daher auch schwerer geworden, Zeichen des Glaubens zu setzen und entsprechende Formen zu bewahren: In der Betriebskantine spricht kaum jemand ein Tischgebet, auch nicht daheim, wenn Gäste da sind. Ein Todesfall im Bekanntenkreis: Hat das Wort von der Auferstehung da seinen Platz? Ich habe großen Respekt vor Menschen, die in
solchen Lebenssituationen sich unaufdringlich, aber spürbar als Christen zu erkennen geben und Trost spenden können. Die geduldig abwarten und durch ihre freundliche Ausdauer und ihr liebevolles Handeln spürbar machen, welchem Stern sie folgen. Und es beeindruckt mich immer, wenn auch Jugendliche und Erwachsene den Mut aufbringen, sich der Kirche und ihrer Botschaft zu nähern und sich taufen zu lassen als ein sichtbares Bekenntnis.

Es ist gut und nötig, dass unsere Gemeinschaft wächst, gestärkt wird von innen wie von außen. Es ist gut, wenn wir uns immer wieder vor Augen führen, was unsere Verpflichtungen sind und was unsere Freiheit zum Blühen bringt. Es ist notwendig, dass wir uns unserer Stellung bewusstwerden: Gegenüber Gott und den Menschen, gegenüber unseren Hoffnungen und Zielen. Nicht ohne Grund steht der Sonntag „Rogate“ zwischen Ostern und Himmelfahrt: Die Ermahnung zum Gebet bezieht sich auf die mutmachende Botschaft des Auferstandenen wie auf die Zeit, da sich diese Botschaft bei den Gläubigen, in der christlichen Kirche, in unserer Mitte zu bewähren hat.

Vielfach wird das Gebet begriffen als eine Art „Nagelprobe“ des Glaubens. Im Gebet fließt vieles zusammen, was den Glauben in seinem eigentlichen Kern ausmacht: Unser Zutrauen in Gott, den wir bekennen als unseren Schöpfer, Bewahrer und Retter, mit allen Konsequenzen. Im Gebet drückt sich auch aus, was wir nicht sind: Denn wer Gott bittet und ihm dankt, der nimmt auch seine Grenzen in den Blick, der spielt nicht den Allmächtigen und Allwissenden. Wer betet, wird wieder zum Kind, das um den Wert von Liebe und Geborgenheit weiß.

Im Gebet richten wir unser Leben nach Gott aus, und unser Glaube kommt zur Sprache. Und in dieser Sprache gibt es
mitnichten nur fromme Worte! Wie auch Kinder nicht nur Ja und Amen zu ihren Eltern sagen dürfen, so dürfen auch
wir all das vor Gott bringen, was uns bewegt, was wir nicht lösen können und wo er unsere große Hoffnung ist: Zweifel, Ängste, Zorn und Ärger, Kämpfe und Katastrophen unseres Lebens finden hier ihren Ausdruck – und ihren Ort, wo sie nicht ungehört verhallen. In den Psalmen finden wir bewegende Beispiele, mit welcher Leidenschaft, aus welcher Verzweiflung heraus sich Menschen zu Gott wenden.

Zu beten, das kann und sollte nicht zuletzt auch eine Übung sein, eine Übung des Herzens, damit es seine Sprache nicht verlernt und verkümmert. Eine Übung im Alltag, damit wir in Grenzsituationen gewappnet sind: Ein Kollege von mir fand dafür einen passenden Ausdruck, als er mir davon erzählte, wie sein Vater starb: Als all das leere, hilflose Gerede wie „Kopf hoch, das Leben geht weiter“ an ihm vorbeiging, er aber auf einmal wieder das fast vergessene „Vater unser“ für sich sprechen konnte: Das war nach seinen Worten „wie ein warmer Mantel, den man um sich legt“, der einen schützt und wieder vertraute Sicherheit gibt.

Doch Vorsicht: Sein Herz im Gebet sprechen zu lassen, das kann auch schmerzlich sein. Das Gebet macht uns nicht zu besseren Menschen und schmeichelt uns nicht. Es holt uns vielmehr aus der Deckung, wie wir dies vielleicht auch aus Alltagsgesprächen kennen: Wenn unsere hochfliegenden Gedanken und unser Stolz zunichtewerden, wenn wir einmal versuchen, das Ganze in Worte zu fassen: Dann klingt es mitunter unausgegoren, nicht mehr so beeindruckend. Wenn wir uns selber zuhören und merken, wie kleinlich vielleicht unsere Pläne sind, wie unbedeutend unsere Wünsche und wie unangemessen unser Ärger ist.

Das Gebet macht uns frei: Es kann klären, was verschwommen ist, es hilft uns loszulassen, wo wir uns und anderen im Wege stehen. Das Gebet lässt uns alles in Gottes Hand legen, was wir von ihm empfangen haben – welch eine Gnade, um diese Chance zu wissen und sie nutzen zu können! Welch eine Entlastung, und welch eine Ermutigung! Ja, und welche eine Kunst, möchte man ergänzen:

Ich sprach vorhin davon, was heute alles schwerer geworden ist – und das Gebet zählt sicherlich auch dazu. „Hält man sein Herz nicht still“, schrieb Martin Luther, „kann Gott nichts Gewisses hineingeben, genauso wenig, wie du einem Menschen etwas geben kannst, wenn er die Hand nicht still hält“. Darum genieße ich es auch, wenn ich im Gottesdienst in der Gemeinde sitzen kann, schweigen muss und darf.

Wenn ich Gebete hören kann, mitsprechen kann und mir so auch Raum gegeben wird für meine eigenen Gedanken, damit sich daraus Gebete formen – zunächst noch bruchstückhaft, doch Gestalt gewinnend. Dankbare Momente, für die man sich im Alltag nur schwer frei machen kann – und für die man auch beten sollte!

Einsicht in die Notwendigkeit von Regeln und Regelmäßigkeit, Bereitschaft, vielleicht auch lästig erscheinendes auf sich zu nehmen, und die Konsequenz, sich nicht von jeder Neigung ablenken zu lassen – das ist es, was man als „Erwachsenwerden“, als Reifung und innere Festigung eines Menschen bezeichnet. So gesehen, sind wir immer noch
Heranwachsende im Glauben, und das Gebet unsere Bewährungsprobe: Darum beten erwachsene Christen auch
immer noch das „Vater unser“:

Denn wie ein Vater kennt Gott unsere Schwächen, schenkt uns Vertrauen und steht voller Liebe hinter uns. Er sieht unsere Sorgen und erhört unsere Bitten, deren Erfüllung oder Verweigerung in seinen Händen steht. Und wie ein Vater wacht er über uns, dass wir nicht verloren gehen, sondern auf dem Weg des Lebens bleiben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen