Manchmal wäre ich schon froh, wenn ich wie ein Heide wäre: Wenn ich immer liebevoll wäre wenigstens zu denen, die mich lieben. Wenn ich die meiste Zeit freundlich wäre zumindest zu meinen Freunden und Verwandten. Das wäre schon viel! Jedoch vollkommen zu sein, wie unser himmlischer Vater vollkommen ist – das ist eine Vorstellung, ein Ziel, das für mich jedenfalls in sehr weiter Ferne liegt.
Manchmal wäre ich froh, wenn ich mich mehr zurückhalten könnte: Wenn ich anderen Menschen mehr Zeit lassen, mehr Fehler nachsehen und mehr Freiräume zugestehen würde, statt ungeduldig ständig Leistungsbereitschaft und Perfektion von ihnen zu erwarten. Ich wäre froh, wenn ich nicht Nachlässigkeit und Unfähigkeit vermute, wo es mal länger dauert und mehr Erklärungen braucht.
Nein, liebe Gemeinde, einen Preis für Besonnenheit und Edelmut habe ich mir ganz sicher nicht verdient. Selbst unter den vielgeschmähten Heiden und Zöllnern gibt es sicher viele, die sich besser im Griff haben als ich, und an denen ich mir ein Beispiel nehmen sollte. Es steht mir folglich nicht an, von oben herab christliche Tugenden zu predigen – ganz abgesehen davon, dass ich diese in meinem von Wohlstand und Sicherheit bestimmten Alltag fast nie unter Beweis stellen muss:
Ich wüsste nicht, wann mich zuletzt jemand geschlagen hat, wann jemand meinen Mantel forderte oder mich um Begleitung bat. Gut, da ist vielleicht das eine Gespräch, für das ich gerade mal nicht in Stimmung bin, oder die Bitte um etwas Geld oder Essen, hinter der vielleicht nur Bandenkriminalität oder geistige Verwirrtheit steckt – aber das sind Kleinigkeiten.
Manchmal wäre ich auch froh, wenn es immerhin so gerecht in der Welt zuginge, dass tatsächlich Gleiches mit Gleichem vergolten wird – nicht mehr, aber auch nicht weniger! Wenn manche Entschuldigungen weniger gleichgültig klingen würden, wenn erlittene Verletzungen wirklich gesehen und gewürdigt würden und es eine angemessene, also auch seelische Wiedergutmachung für angerichteten Schaden gäbe. Nur Geld und gute Worte reichen da nicht.
Und so tun sie mir im Grunde eher leid, all die Gutmütigen, die selbstlos so vieles aushalten und auffangen, damit das Leben in der Ehe, der Familie oder am Arbeitsplatz ungestört weitergeht – zumindest für die andern: Vorbildlich oder gar bewundernswert erscheint mir das kaum, sondern vielmehr grausam und erst recht jenseits von aller Vollkommenheit.
Jeder Mensch hat Wert und Lebensrecht, niemand sollte sich Gewalt über andere anmaßen dürfen, niemand Unterwerfung und Selbstaufopferung von jemand verlangen – lassen wir uns da nichts einreden, auch nicht von sog. Herrenmenschen und Führernaturen!
Das Bild von den Wölfen und der Schafherde kommt mir in den Sinn: Können wir es denn verantworten, zu Feindesliebe zu ermuntern, wo dunkle Kräfte bereits auf der Lauer liegen und keinen Zweifel lassen an ihren Absichten? Dürfen wir es lebensfeindlichen Mächten so leicht machen, Tod und Zerstörung über zahllose Menschen und in die Welt zu bringen, und es ihnen gestatten, unermüdlich das Recht zu beugen und Unfrieden zu stiften?
Viele geglaubte Sicherheiten auf politischer Ebene sind in den letzten Jahren ins Wanken geraten. Die Logik vom Gleichgewicht der Kräfte wie auch das Vertrauen auf eine zivilisierte Gesellschaft, auf die Selbstverständlichkeit von allgemeinem Anstand und Solidarität, all das hat tiefe Risse bekommen und scheint heute kaum mehr tragfähig. Der Weg zum Frieden zeigt sich kompliziert und steinig, sein Ende liegt verborgen hinter einem fernen Horizont.
Unser Predigttext stammt aus der Bergpredigt – ein zentraler Text im Matthäus- wie auch im Lukasevangelium, beide stimmen inhaltlich in vielem überein, so auch hier: Er beginnt mit den Seligpreisungen, die einen Vorgeschmack geben auf die Zumutungen der Feindesliebe. Alles andere als bei einem Aufruf zu einem heiligen Krieg wird darin ein Weg der Nachfolge vorgezeichnet, der vielfach begleitet sein wird von Hunger nach Gerechtigkeit, von Leid, Spott und Verfolgung und dem Verzicht auf Vergeltung.
Bei allen Bedrohungen und Widrigkeiten sind ausgerechnet Sanftmut und Barmherzigkeit die Schrittmacher auf diesem Weg, der uns näher zu Gott bringt. Als ob Jesus gewusst hätte, das uns am schwersten fällt! Was Jesus ganz sicher wusste und hier gemeint hat, ist die Frage nach den Machtverhältnissen: Was kann Gewalt über uns bekommen und uns beherrschen?
Wir alle haben wohl schonmal erfahren, wie ansteckend Ängste sind: Ein Funke genügt, und schon ist sie da, greift um sich, erfasst in Windeseile diesen und jene, bis alle davon erfasst sind. Auch der Ruf nach Gerechtigkeit geht schnell viral, treibt die Menschen zu fanatischem Eifer und schärften Urteilen an. Und wo einfache Lösungen nicht zur Hand sind, wächst die Sehnsucht nach Vergeltung – als ob mit den wegzusperrenden, zu vertreibenden wenn nicht auszulöschenden Menschen auch alle unsere hausgemachten Probleme verschwänden.
„Lasst es gut sein“, ist hier gemeint. „Ihr Menschen werdet keine vollkommene Gerechtigkeit, kein Friedensreich, keinen Himmel auf Erden zustande bringen. Seid Euch Eurer Grenzen bewusst, Eurer Verführbarkeit, Fehler und Bedürftigkeit. Spielt nicht Gott, sondern blickt zu ihm auf und vertraut seiner Macht und Weisheit!“
Die Bergpredigt gibt keine einfachen Antworten auf Fragen nach Zivilcourage, politischem Aktivismus oder zu Waffenlieferungen. Sie ist nicht zu vergleichen mit den Gesetzen und Geboten im Alten Testament und schreibt nicht vor, was genau wir tun und lassen sollen.
Die Bergpredigt zeigt uns aber auf jeden Fall, dass es mehr als einen Weg gibt: Keinen starren Automatismus von Aktion/Reaktion, sondern auch die Antwort verzeihender Liebe – und zwar nicht als fromme Pflichtübung, sondern als echtes Wunder und unverdientes Geschenk.
Die Bergpredigt zeigt uns, dass die Kette der Gewalt auch unterbrochen werden kann, wenn man sich nicht zu Vergeltung hinreißen lässt. Und sie zeigt uns, dass auch uns gelingen kann, was Gott täglich an uns tut: Sein Herz zu öffnen auch denen, die sich an uns versündigen, und sie nicht aufzugeben.
Der Pfarrer und Menschenrechtler Martin Luther King griff diese Botschaft vor 60 Jahren in seiner berühmten Rede auf, darin heißt es: Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen. Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen.
Es geht auch anders und besser, wenn wir auf Gott schauen. Wenn wir uns nicht anstecken lassen von hochkochenden Emotionen, Herrschafts- und Gewaltphantasien, sondern wenn wir nüchtern bleiben und demütig in all unseren Versuchen, Entscheidungen und Taten.
Manchmal träume ich davon, dass mir und anderen das gelingt, wovon die Bergpredigt in so verstörend visionären Worten spricht – und bin froh, wenn dieser Traum zumindest ab und zu Wirklichkeit wird: Wenn sich wunderbare Freiheit zeigt in einer guten, dem Leben verpflichteten Entscheidung. Wenn Gottes Segen darin spürbar wird für mich und andere. Wenn seine Liebe sich in uns widerspiegelt und die Welt verwandelt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.