Weggemeinschaft

„Sollen wir euch mitnehmen?“ Es war ein gutes Stück vom kleinen Dorffriedhof zum Bahnhof in die Stadt, gute 11 km. Doch der Zug fuhr erst gegen Abend, sie hatten also noch Zeit – und die brauchten die beiden Männer auch. Sie brauchten Zeit, um nachzudenken, zu verarbeiten, zu reden.

Zu zweit geht das manchmal besser als in der großen Runde. So viel Belangloses hatten sie alle einander erzählt im letzten Jahr, beim großen Klassentreffen. Beruf, Familie, Politik – der übliche „Smalltalk“, bis einer aus ihrer Runde wie nebenbei von seiner Krebserkrankung erzählte: Höchstens ein Jahr hätte er noch.

Heute waren sie zu seiner Beerdigung in den alten Heimatort gekommen, zumindest ein paar aus ihrer alten Klasse, dazu ein paar Freunde und Kollegen des Verstorbenen und seine alte Mutter. Tapfer hielt sie stand, den betroffenen Gesichtern, dem wiederholten Händedruck mit halb gemurmeltem „Mein Beileid“ – seltsam unbeholfen klang das, wie eine Formel, welche mehr von der Hilflosigkeit und dem Nichtwahrhabenwollen zeigte als es verbergen konnte.

Der Pfarrer übernahm das Reden, die Orgel spielte und die Gemeinde sang, dann trennten sich die Wege der meisten Gäste wieder. „Sollen wir euch mitnehmen?“ Eher zufällig begegneten sich die Blicke der beiden Männer, es war eine unausgesprochene Verständigung: „Nein danke, wir laufen!“ – „Den ganzen Weg, seid ihr sicher?“ – „Ja, wir haben Zeit“.

Die guten schwarzen Schuhe waren zwar alles andere als zum Wandern geeignet, doch das Wetter war klar und die Sonne schien. Jetzt ins Taxi und im Bahnhofsrestaurant warten, lustlos in irgendeiner Zeitung blättern um sich die Gedanken zu vertreiben, danach stand ihnen nicht der Sinn.

Zeit nehmen, einander Zeit geben. „Beten mit den Füßen“, so lautete die Überschrift eines Artikels über die Kunst des Pilgerns. 11 km, nun, das war kein Pilgerweg – aber wie lange mochte das dauern? 4, 5 Stunden? Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt, und so gingen sie schließlich los, die Trauergesellschaft und den Dorffriedhof hinter sich lassend. Es wurde still um sie, und nach einer ganzen Weile auch still in ihnen.

Stille kann auch etwas Schöpferisches haben, über die gleichmäßigen Schritte wird der Kopf frei. Die Alltagsgedanken treten zurück, die großen Gewissheiten machen Platz für neues Nachdenken: So schnell war es gegangen! So alt war ihr alter Freund noch gar nicht gewesen! So etwas hätte jedem passieren können! Wie soll man damit fertigwerden? Wie sein Leben am besten führen?

Sie erzählten sich von Begegnungen, Erfahrungen auf ihrem bisherigen Lebensweg. Eindrücke, die ihre Weltsicht veränderten, Erlebnisse, aus denen sie Kraft und Hoffnung schöpfen, Unerklärliches, das nicht ins Schema passte und rätselhaft blieb.

Ich denke, diese gemeinsame Zeit war wertvoll für die beiden Männer. Ich denke, wir alle brauchen von Zeit zu Zeit solche unvertrauten Wegstrecken, die unsere Orientierung fordern, die Sinne weiten und auch als Erwachsene nochmal lernen lassen.

Heute, am Ostermontag hören wir im Predigttext von zwei Jüngern, die sich auf dem Weg nach Emmaus befinden. Es sind keine besonderen Jünger, nur von einem wird der Name erwähnt, aber auch der ist ohne Belang. Wo genau jenes Dorf Emmaus liegt, darüber streiten die Gelehrten – sicher ist nur: Es ist ein völlig unbedeutender Ort, gleichsam das Gegenstück zu Bethlehem, irgendwo im Nirgendwo, im Hinterland also, wo sich gewöhnlich nichts Großes ereignet.

Der Grund Ihres Wegs bleibt somit ungewiss, wie auch ihr Ziel. Man darf annehmen, dass sie weg wollten von Jerusalem, wo ihre Hoffnung auf eine neue Zeit gestorben war am Kreuz von Golgatha. Sie hatten genug gesehen, so dachten sie: Dem schillernden Mosaik ihrer Lebenseindrücke war ein weiteres dunkle Steinchen hinzugefügt worden.

Tiefe Traurigkeit beherrschte sie, weil es ja mal wieder so typisch war für diese Welt: Mal wieder hatte das Unrecht gesiegt, mal wieder war ein helles Licht ausgelöscht, das Alte behauptete unerbittlich weiter sein vermeintliches Recht und dämpfte jede frohe Erwartung auf Veränderung.

Zwar hatten sie gehört von jenen wundersamen Berichten, vom leeren Grab und von Engeln, die sagen, er, jener Mann aus Nazareth sei Gottes Sohn, sei auferstanden und lebe. Doch ein leeres Grab und eine frohe Botschaft sind zu wenig für beschwerte Herzen, und der Osterglaube ist keine reine Kopfsache: So vieles liegt auf der einen Schale der Waage, da wiegen Berichte und Erzählungen nicht schwer genug, um alles aufzuheben. Selbst als Jesus ihnen direkt gegenübersteht und sie anspricht: Um diesen Stein, vielmehr diese vielen Steine wegzurollen, bedarf es mehr!

Nochmal von vorne: Gleichsam bei Adam und Eva, genauer: Bei Mose und allen Propheten setzt Jesus an, zeigt Verbindungen auf. So groß das Wunder der Auferstehung auch fraglos ist: Es hat seine tiefen Wurzeln in den alten Überlieferungen, zieht sich durch die Geschichte des Volkes Israel, hat Vorboten, in deren Tradition dann auch die Osterzeugen stehen.

Doch erst am Schluss, als Jesus einkehrt unter ihr Dach, wie er es so oft getan hatte – bei Pharisäern und Zöllnern, bei Maria und Martha und bei so vielen Menschen – da geschieht ihr ganz persönliches Wunder: Jesus bricht das Brot, vollzieht das Abendmahl in liturgisch einfachster Gestalt mit ihnen, vollzieht auf denkbar schlichte Weise Gemeinschaft mit Gott, wie er sie zuvor verheißen hatte.

Da gingen ihnen die Augen auf, da begriff ihr Verstand, da erkannten sie ihn, der so plötzlich wieder aus ihrer Mitte verschwand. Doch diesmal gewann die Trauer keine Oberhand: Die Jünger waren Teil von etwas geworden, und der Weg, den sie mit Jesus zurückgelegt hatten, war seinem Ziel näher als seinem Ausgangspunkt: In Emmaus war Golgatha Geschichte, mehr als das: War Teil eines großen Ganzen, war Teil jener Erlösung, die sie sich von jenem Mann aus Nazareth so sehr erhofft hatten.

Das Kreuz war nicht das Ende, sondern ein neuer Anfang Gottes mit den Menschen. Von Ostern, von der Auferstehung kann man berichten, lesen, sich in der Kunst berühren lassen: Doch Jesus selbst ist es, in dessen Gemeinschaft unser kalt und müde gewordenes Herz wieder neu belebt wird, neu entfacht wird zum Glauben.

„Brennende Leidenschaft“ – das klingt ein bisschen nach einem billigen Liebesroman. Aber Feuer im Herzen zu haben, das hat durchaus etwas Bewegendes. Da wird es hell, da spürt man Wärme, die sogar noch für andere Menschen reicht. Das weckt Energie und Tatendrang – so sehr, dass die Jünger (so lesen wir) noch zur selben Stunde aufbrachen und wieder den ganzen langen Weg von 60 Stadien, gute 11 Kilometer zurückgingen, um den übrigen Jüngern und vielen anderen davon zu berichten.

Wohin gehen wir, wovon berichten wir Christen nach dem Ostermorgen und an den Tagen, Wochen und Monaten danach? Überzeugungsarbeit ist ein mühseliges Geschäft, Besserwisser gibt es schon genug auf der Welt. Ich glaube, als einfache Arbeiter im Weinberg – ob nun in Emmaus, Altensalz oder Theuma – gibt es genug Möglichkeiten, als Glaubenszeuge und Osterjünger erkennbar zu sein, einladend zu sein für jene, die noch auf dem Weg, auf der Suche oder alleingelassen sind.

Ich denke an die beiden Männer auf dem Dorffriedhof. Ich denke an Kolleginnen und Kollegen, an Menschen, mit denen ich im Alltag zu tun habe. Auch ohne meinen christlichen Glauben an die große Glocke zu hängen, wundern sich bestimmt manche über mich und über das, was wir als Gemeinde sonntags und auch sonst so treiben, bei all unserer bescheidenen Gewöhnlichkeit.

Ich will daher auch nicht „bessern und bekehren“, ich habe im Grunde immer nur eine Frage: „Sollen wir euch mitnehmen?“ Ein Stück des Wegs begleiten, ins Gespräch kommen, berichten von dem, der unser Dunkel erhellt? Wenn er dazukommt, uns begleitet, sich uns mitteilt, dann wird es Ostern: Zu jeder Stunde und an jedem Ort.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft…