Jetzt war er wieder allein in seinem Klinikzimmer. Er wusste, er würde sich nie gewöhnen an diese eigenartige Umgebung, an diese Mischung aus hektischer Betriebsamkeit und endloser Warterei: Nochmal Blutdruck messen, Fragen beantworten, brav die Medikamente nehmen („ja ganz prima, wie sie das machen!“). Immer wieder kamen Ärzte und Schwestern bei ihm vorbei, notierten sich Dinge, als wollten sie jedes kleinste Detail von ihm festhalten – und dann waren sie wieder verschwunden, und er blieb zurück, mit seinen Gedanken.
Er fühlte sich nicht wohl, und das lag nicht nur an den Schmerzen und der bevorstehenden OP. „Ein einfacher Routineeingriff, machen Sie sich keine Sorgen!“ Naja, die Ärzte müssen es ja wissen. Nein, er kam sich fehl am Platz vor, so wie er jetzt dalag im Bett. Er konnte hier nichts tun außer warten. Den Fernseher hatte er bereits nach kurzer Zeit ausgeschaltet, da kam doch nur dummes Zeug, das ihn nicht interessierte.
Aber da musste er wohl durch, und bald war es ja auch soweit: In einer halben Stunde sollte er abgeholt werden, und wenn alles gutging, war er in zwei Wochen schon wieder zu Hause. Er dachte an seinen kleinen Garten; die Nachbarn hatten versprochen, sich um ihn zu kümmern. Nette Leute. Er kannte sie eigentlich kaum, hatte mit ihnen nur hier und da mal einen Schwatz gehalten, wenn sie sich zufällig trafen. Aber als er von seinem bevorstehenden Klinikaufenthalt sprach, da boten sie sofort ihre Hilfe an. Ja, das hatte ihn überrascht: Wirklich nette Leute!
Er musste sonst für sich selber sorgen. Seine Frau war schon vor einigen Jahren gestorben, nachdem sie sich lange Zeit geplagt und er sich zuletzt rund um die Uhr um sie gekümmert hatte. Ihr Leben im Alter hatten sie sich anders vorgestellt, aber was will man machen, wenn die Gesundheit nicht mitspielt?
Man kann es sich nicht aussuchen – das hatte er schon früh gelernt: Als es mit dem Abitur nicht klappte, da musste er in die Lehre und liebe Zeit, wie wurde er da rangenommen! Er musste richtig ranklotzen, damit sein Ausbilder zufrieden war. Das hieß dann: Tagsüber schuften im Betrieb, und anschließend noch stundenlang für die Abendschule lernen, denn mit dem Abitur, das musste er noch irgendwie schaffen, schon seinen Eltern zuliebe.
Und klar, er hatte es schließlich auch geschafft und fing an, beruflich durchzustarten. Er weiß noch, wie stolz sein Vater war, als er eines Tages dann in Anzug und Krawatte mit seinem schicken silberfarbenen Dienstwagen vorfuhr: „Mensch Junge, du hast es wirklich zu was gebracht!“
Es tat ihm gut, diese Anerkennung. Seine Eltern hatten so viel für ihn getan, da wollte er sie nicht enttäuschen. Freilich, die Plackerei, die Überstunden und das ewige Gebuckel vor dem Chef – das ging eigentlich fast schon zu weit. Aber dafür kam er immerhin auch weiter, Schritt für Schritt. Seine erste Freundin hatte ihn schon bald sitzengelassen, weil er kaum Zeit für sie hatte – aber die Marianne, seine spätere Frau, die hatte Verständnis und unterstützte ihn von Anfang an, wo sie nur konnte. Urlaubsreisen, das eigene Haus: Das alles wäre sonst ja auch gar nicht möglich gewesen.
Er seufzte tief. Ein Leben harter Arbeit, voller Verpflichtungen, kaum Zeit für sich – und jetzt war er ein alter, allein lebender Mann, der mit einem lächerlichen Nachthemd bekleidet im Krankenhaus lag und wartete. Worauf eigentlich? Die Schmerzen waren lästig, gut, das musste natürlich aufhören. Und noch ein paar Jahre das Leben genießen, noch ein wenig von der Welt sehen, das wollte er schon auch. Hoffentlich kümmern sich die Nachbarn auch ordentlich um den Garten. Hoffentlich geht nachher bei der Operation nichts schief, man hört ja so einiges…
Er fühlte sich nicht wohl, und er fühlte, dass es nicht nur die Schmerzen waren und dass es nicht nur an der fremden Umgebung lag. Was hatte er im Leben alles erreicht, doch was hatte es ihm letztlich gebracht? Nicht, dass er noch viel mehr hätte erreichen können, nein, und es waren durchaus erfüllte Jahre: Seine Ehe war glücklich gewesen, er hatte noch immer gute alte Freunde, das war alles in Ordnung und ließ ihn dankbar auf sein Leben blicken.
Aber es gibt Momente, dachte er, da wäre ich am liebsten wieder ein kleines Kind, dass sich nicht groß um seine Zukunft zu kümmern braucht, und das noch alle Möglichkeiten hat. Ich war oft ängstlich als Kind und wäre es bestimmt auch jetzt, in diesem Zimmer im Krankenhaus, mit lauter Leuten, die ich nicht kenne und die von mir auch nur ein paar wenige Daten haben:
Aber wenn meine Eltern zu Besuch kämen, dann wäre es nicht mehr so schlimm. Ich würde mich ganz einfach und voller Vertrauen auf sie verlassen. Ich müsste mir weniger Gedanken machen. Ich wüsste, dass sie für alles Nötige sorgen, nein mehr noch: Dass sie es mir schön machen würden, Bücher und Schokolade ans Krankenbett bringen und daheim mein Kinderzimmer hübsch herrichten. Sentimentale Wünsche, ich weiß, aber der Gedanke tut gut!
Meine Frau Marianne, die hatte auch immer einen Sinn für schöne Dinge. Sie schleppte mich oft ins Theater, in Konzerte oder in die Kirche. Ich ging dann mit, um ihr einen Gefallen zu tun. Aber ich war selten mit den Gedanken bei der Sache. Ob sie das wohl gespürt hat? Sie wurde sogar Mitglied im Kirchenchor und fand dort eine gute Gemeinschaft. Fast alle waren dann auch bei ihrer Beerdigung gekommen: Sie haben einige ihrer liebsten Lieder gesungen und Texte verlesen. Ich konnte mir nicht alles merken, aber an diesen Psalm mit den „Flügeln der Morgenröte“ zum Beispiel, daran erinnere ich mich.
Mit dem Glauben hatte ich es nie so besonders, aber dank Marianne bekam ich unweigerlich doch das eine oder andere mit. Sie hat mir praktisch die Tür offengehalten, ohne große Erwartungen, einfach in liebevoller Geduld. Sie kannte mich eben, und sie vertraute darauf, dass irgendwann auch ich etwas von dem übernehmen könnte, was sie in der Zeit ihrer Krankheit bei allen Kämpfen und Ängsten immer wieder diese Ruhe, diesen inneren Frieden finden ließ.
Sie hatte so leidenschaftlich am Leben gehangen! Die Menschen bedeuteten ihr sehr viel, ihre Eltern und Verwandten, Freunde – Beziehungsarbeit war ihr wichtig, viel mehr als mir. Aber vielleicht war ihr Glaube ja auch so etwas wie eine Beziehungsarbeit: Ein „fröhliches Gotteskind“ hatte sie sich genannt, das sich nicht unterkriegen lässt. Und dann kam plötzlich der Krebs und veränderte alles – nur nicht ihre beharrliche Zuversicht, auch wenn die Angst manchmal in ihr aufflammte und sie schier aufzufressen drohte.
Damals an ihrem Sterbebett spürte ich überhaupt nichts von Gott, ich war einfach nur innerlich leer, verzweifelt und traurig. Eigentlich hat sie eher versucht mich zu trösten als umgekehrt. Ich wusste nicht, wie alles nun werden sollte – aber sie ergab sich schlicht ihrem Glauben, dass der Herr ihres Lebens auch Herr sei über ihren Tod, und dass seine Auferstehung auch ihr ein neues Leben versprach – jenseits all dessen, worum wir uns mühen und sorgen.
Nur noch fünf Minuten. Routineeingriff hin oder her, etwas mulmig fühlte er sich schon. Aber ihm war auch etwas leichter ums Herz, sogar ein kleines Lächeln ging durch sein Gesicht: Ein Kind, das zuversichtlich an der Hand Gottes geht – ja, das war seine Marianne, ungeachtet ihres Alters. Jetzt, wo er sich erinnerte, erwachte in ihm eine Sehnsucht, ein Stolz auf seine mutige, starke Frau – und eine Neugier wuchs in ihm, nach der Kraft dieses Glaubens.
Ein Kind, dem Gott versprochen hat, stets nahe zu sein. So nahe, dass der Tod nicht das Ende bedeutet, sondern den wunderbaren Anfang von etwas Neuem. Neu anfangen. Loslassen und Vertrauen lernen. Aufschauen und hoffen dürfen. Wieder ein Kind, staunend und voller Möglichkeiten zu sein – war es das nicht, was er sich vorhin gewünscht hatte? Die Tür ging auf.
„Wollen wir?“ fragte die Krankenschwester und rollte sein Bett auf den Gang hinaus. Ich habe noch was vor mir, dachte er. Wenn alles gut geht, werde ich in zwei Wochen wieder zuhause sein. Wie neugeboren? Na, wir werden sehen. Aber es wartet etwas auf mich, ein neues Leben, in das auch ich als ein Kind Gottes gehen darf.
Leise schloss sich die Tür hinter ihnen.