Vor dem Gesetz

Missverständnisse – sie gehören zum Leben dazu, auch zum Glaubensleben! So erzählte uns ein alter Pfarrer mal von einem Gemeindeabend in den 60er Jahren in Köln, bei dem es zu der bemerkenswerten Aussage kam: „Wir Evangelischen haben ja keine Sünde!“.

Es mag beruhigen, dass diese steile These von einem evangelischen Christen im Rheinland geäußert wurde: Die bildeten damals in einer überwiegend katholisch geprägten Gegend noch eine Minderheit; anders als in unserem gut lutherischen Sachsen kann es da also schonmal zu konfessionellen Unschärfen und Fehlurteilen kommen.

Doch wenn man ehrlich ist: Zu 100% sicher sind wir uns auch nicht immer! Sonst wären die Sitzungen im Kirchenvorstand, auf der Synode, in den landeskirchlichen Gremien schließlich viel harmonischer und obendrein viel kürzer. „Wir Evangelischen“ – sind das hier in Altensalz die gleichen wie in, sagen wir Reichenbach? Sprechen wir die gleiche Sprache wie unsere Glaubensgeschwister im Erzgebirge oder in den Stadtteilen von Leipzig und Dresden?

Wie in einer großen Familie gibt es da recht unterschiedliche Ausprägungen: Der eine ist vielleicht liberal eingestellt, wo ein anderer eher darauf bedacht ist, Traditionen zu bewahren usw. Und die christliche Familie ist auch ziemlich groß und bunt, entgegen landläufiger Meinung und erstem Augenschein:

Sie ist über die ganze Welt verteilt – und wo mancherorts die Gemeinden aus unterschiedlichsten Gründen kleiner werden, verzeichnen sie in anderen Ländern großen Zuwachs. Christenverfolgung gibt es auch heute noch, z.B. im Nahen Osten, in Afrika und Indien sogar in zunehmendem Maße: Manchmal dringt etwas davon an unser Ohr, wenn wir von Verhaftungen, Todesurteilen und Attentaten hören. Und genauso gibt es anderswo auch Christen, die ihrerseits Gewalt ausüben, sich anderen Menschen und Kulturen überlegen fühlen, sich Rechte herausnehmen, aus denen Unrecht und Unheil erwächst.

Wir Deutschen kennen das ja aus unserer Geschichte. Man mag sie mitunter gar nicht mehr hören, jene verstörenden Schilderungen zahlloser Verbrechen an jüdischen Mitbürgern: So unvorstellbar grausam war das, was nicht nur einzelne Diktatoren, sondern weite Teile der deutschen Bevölkerung gebilligt und oft auch unterstützt haben.

Es ist sehr einfach, sich da heute hinzustellen und aus einer Position der Sicherheit heraus den mahnenden Zeigefinger zu heben. Ebenso einfach ist es, die Bibel nun heranzuziehen als Grundlage für Verfehlungen oder sie umgekehrt zu missbrauchen zur Heiligsprechung eigener Ansichten und Positionen.

Wir sollten da besser zurückhaltend sein – als Deutsche, als Evangelische, als Christen: Der heutige Predigttext erinnert uns daran. Er stellt uns in den großen Zusammenhang der Heilsgeschichte. Der neue Bund mit Gott in Jesus Christus, er steht in einer langen Reihe, sie zieht sich vom verlorenen Paradies und Brudermord über die Sintflut, von der Zeit der Könige über die Befreiung aus Gefangenschaft bis hin zu den Propheten des Alten Testaments.

Wie gerne hören wir ihre Worte, ganz besonders in der Advents- und Weihnachtszeit, wenn wieder die Rede ist vom „Volk, das im Finstern wandelt“ und ein helles Licht sieht. Wenn der Glaube Israels zu unserer Hoffnung wird.

„Das Gesetz und die Propheten“, das sind die verbindlichen Schriften und Zeugnisse des jüdischen Glaubens, die auch Grundlage unseres Glaubens bilden. Schon von daher wäre es ein Missverständnis, es einfach so als trocken und unfruchtbar hinzustellen, wie es manche Christen immer wieder getan haben. Die haben ihren Paulus vermutlich nur halb gelesen und sicher nicht mal die Hälfte verstanden!

Natürlich: Im Gesetz finden wir keine Erfüllung, mit Geboten und Regeln erschaffen wir kein Paradies auf Erden, das sind nicht die Steine, aus denen das Reich Gottes gebaut ist. Das vermag für uns allein das Evangelium, die gute Botschaft von der Liebe Gottes, seiner Treue und Barmherzigkeit, wie sie in Jesus Christus Gestalt angenommen hat und uns neues Leben eröffnet.

„Siehe, das Alte ist vergangen – Neues ist geworden.“ Doch steht das Neue immer im Gegensatz zum Alten? Ist das, was vorher war, damit einfach nur Vergangenheit, die man vergessen kann, aus und vorbei?

Ich hatte in meinen Studientagen das Glück, Vertreter einer jüdischen Gemeinde persönlich kennenlernen zu dürfen – und war tief beeindruckt von ihrem lebendigen Glauben: Da war viel Leidenschaft spürbar, Ehrfurcht vor der Tradition. Da gab es natürlich auch Differenzen, bei denen man scharfen Streit nicht scheute und zugleich immer einen herrlichen Humor und Herzlichkeit bewahrte. Hundert Generationen Glaubensgemeinschaft bleiben nunmal nicht ohne Folgen und verdienen mehr als nur Respekt!

Dem jüdischen Glauben gelang es immer wieder auch unter widrigsten Umständen, ein Schutzraum zu sein und Lebensraum zu bieten. Er widerstand der Versuchung, sich in eine abweisende Trutzburg zu verwandeln oder zur spirituellen Isolierzelle zu verkümmern.

Er vertraut seit drei Jahrtausenden der göttlichen Kraft, die in ihm lebendig ist, und dem, der dem Volk Israel seine Treue zugesagt und sie aus unserer Sicht, nach unserem Glauben in seinem Sohn Jesus Christus auch bestätigt hat – in dem, von dem es im Predigttext heißt, er sei „nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“.

Wenn Jesus die Tora, die Pharisäer und Schriftgelehrten im Neuen Testament kritisiert – und das tut er bekanntlich oft und an vielen Stellen – dann spricht er damit nicht dem jüdischen Glauben Wert und Würde ab. Vielmehr mahnt er seine Jünger, die Leute, die ihm folgen und somit letztlich auch uns, den Absender jener Botschaft und die Absicht hinter dem Gesetz nicht zu vergessen.

Unser Glaube, als Juden oder Christen, als rheinische Katholiken oder Evangelische in Sachsen – das ist und bleibt ein schwaches Ding, leicht verführbar und zerbrechlich. Er lebt aus dem Vertrauen in die göttliche Kraft, die ihn trägt und erhält, er überlebt in der „Gemeinschaft der Heiligen“ – womit bekanntlich keine herausragenden Helden, sondern vielmehr die Geheilten und Heilungsbedürftigen gemeint sind.

Schutzraum und Lebensraum zu bieten, das ist auch Aufgabe der christlichen Kirchen, überall auf der Welt. Und wenn wir dem nicht gerecht werden, wenn unsere Gerechtigkeit nicht besser ist als die der sorgsamen Pharisäer und Schriftgelehrten, dann haben wir etwas missverstanden, dann sind wir vom Kurs abgekommen:

Nicht vergessen, worauf wir aufbauen. Nicht aus dem Blick verlieren, was Gottes Wort will. Nicht verurteilen, was anderen in ihrem Glauben aufgegeben und wichtig ist.

„Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes“ – unter dieses Wort können wir Christen uns gemeinsam mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern stellen. Wir haben als Volk andere Wurzeln, haben eine andere Geschichte und auch eine andere Hoffnung als sie: Aber wir bekennen gemeinsam den Gott, der alles Leben geschaffen hat, und der die Welt erlösen will. Und es ist eine unserer großen Glaubenshoffnungen, dass unsere Wege wieder zusammenfinden und eins werden – weil er treu ist, der uns und Israel berufen hat.

 Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.