„Das Maß ist voll“ – so hört man es immer wieder, zuletzt vor allem auf Demonstrationen der sog. „besorgten Bürger“. Das Maß ist voll – aber welches Maß eigentlich, und voll womit? Ist der Frust über die Verhältnisse in Gegenwart und Gesellschaft so groß, dass er überläuft? Oder sind es eher Ärger und Wut, Unrechtsempfinden oder verletztes Selbstwertgefühl?
Wahrscheinlich mischt sich einiges, kommt vieles zusammen – und dann ist das Maß natürlich besonders schnell voll. Es scheint alles zu viel und schreit danach, dass endlich etwas passieren möge, dass sich Wertmaßstäbe, Gesetze und politische Verhältnisse ändern.
Das Maß ist voll, auch bei Lukas: Er spricht von einem vollen, gedrückten, gerüttelten Maß – voller geht’s beim besten Willen nicht, da ist absolut keine Luft mehr drin, und es fließt sogar schon über. Auch der Kirchenvater Bernhard von Clairveaux spricht von einem übervollen Maß, wenn er den Menschen beschreibt als eine Schale, in die Gottes Güte und Liebe fließen und sie füllen – so reich, dass es überströmt und anderen Menschen zugutekommen kann.
Ein Übermaß an Barmherzigkeit, und darum scheint es eine leichte Sache, wenn es hier bei Lukas heißt: Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist! Schwierigkeiten bereitet freilich schon dieser etwas angestaubt wirkende Begriff: Er klingt in unseren Ohren unvertraut, und tatsächlich hat ihn erst Martin Luther in seiner Bibelübersetzung so richtig populär gemacht:
„Nun weiß aber jeder wohl, was barmherzig heißt, nämlich, ein solcher Mensch, der gegen seinen Nächsten ein freundlich, gütig Herz trägt, Mitleid mit ihm hat, und sich seiner Not und Unglückes, es betreffe seine Seele, Leib und Gut, mit Ernst
annimmt, und sich so zu Herzen gehen läßt, daß er denkt, er ihm helfen kann. Beweist dies auch mit der Tat und tut es mit
Lust und Freude gern. Ein solches Herz, sagt der Herr, sollt ihr gegen jedermann haben, daß es nicht eine Barmherzigkeit
ist, wie der Sünder und Zöllner“
Barmherzigkeit meint also weit mehr als das Moralprinzip der „goldenen Regel“: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu! Es meint, dem Nächsten wirklich nahe zu sein, sich sein Los persönlich angelegen sein zu lassen, es sich zu Herzen zu nehmen, die gemeinsame Verbundenheit vor Gott anzuerkennen im Fühlen, Reden und Handeln.
Doch wenn den Menschen heute das Herz übergeht, dann sind da meist ganz andere Empfindungen: Ich staune, wie stark manche schon von der leichten Muse zu Tränen bewegt werden – von einem seichten Schlager, von schlichten Reportagen aus der Regenbogenpresse oder einem sentimentalen Rührstück im Fernsehen. Und ich bin entsetzt wenn ich erlebe, wie schon bei kleinsten Herausforderungen bei vielen wilde Empörung hervorbricht – „als wäre der Welt ein Weh getan“, als stünde der Kessel schon massiv unter Druck, hätten wir heute nicht Wohlstand und Sicherheiten, von denen frühere Generationen nur träumen konnten.
Sie haben heute Hochkonjunktur: Verachtung, Beleidigungen, Aggression. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“, heißt es oft. Nun, auch ich bin sicher kein Freund pharisäerhaft-übertriebener „political correctness“, mahne aber zur schärfsten Vorsicht, wo man sich mit Worten arglos zu versündigen droht: Wenn von Menschen gesprochen wird, als seien sie ein Gegenstand, ein beliebiges Politikum und unverbindliches Thema – und hätte nicht jeder einzelne von ihnen seine Geschichte, sein Schicksal und (Gott gebe es) auch Lebensrecht und -perspektive.
Die freie Gesellschaft, die so hart erarbeitet wurde, für die so große Opfer gebracht wurden, wünscht sich nun wieder Mauern. Gräben zwischen Ländern, Völkern und gesellschaftlichen Gruppen werden wieder tiefer, und Brückenbauer immer seltener. Menschen erheben sich über Menschen, und alle stürzen sie dadurch ins Elend.
Haben wir vielleicht den nötigen „Mindestabstand“ nicht eingehalten? Muten wir einander zu viel zu mit unserer Weltoffenheit, Toleranz und Nachgiebigkeit? Es wäre fatal, Sorgen und Ängste zu leugnen, Mühen zu unterschätzen und eigene Bedürfnisse zu unterdrücken. Das geht nicht lange gut, und das fordert auch der christliche Glaube nicht von uns:
Ablehnung, Ignoranz und Mißachtung lassen uns nicht kalt – gerade dann nicht, wenn wir jemandem unser Herz geöffnet haben, es gut meinen und natürlich unweigerlich damit auch gewisse Erwartungen verbinden. Enttäuschung trifft uns an einer empfindlichen Stelle, denn wie jedermann sehnen wir uns nach Sympathien und Zuwendung, hungern wir danach, gesehen zu werden mit unseren ehrlichen Absichten, dürsten wir danach, gerecht behandelt zu werden.
Die Bibel weiß um diese Bedürfnisse. Sie verurteilt sie nicht, genauso wenig wie sie Essen und Trinken, Atmen und Schlafen verurteilt. Das alles gehört wesentlich zum Menschsein, und es liegt eine tiefe Tragik darin, wenn die zuvor genannten Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Luther beschrieb diese unselige Mechanik mit dem Bild eines Dornbuschs:
Wer immer wieder auf harte Gegenwehr stößt, unangenehm gepiekst wird, der entwickelt selbst bald eine dicke Haut oder legt sich ein Stachelkleid zu: Mich verletzt keiner mehr, vielmehr zeige ich jetzt mal den anderen, wie weh das tut! Und dann? Eine Frage, die keine Antwort findet:
Woraus Barmherzigkeit erwächst, das muss uns immer wieder neu in den Schoß gelegt werden. Wenn Gottes unverfügbare Gegenwart uns mit einem Mal ergreift in der Stille, im Gebet, im guten Wort eines lieben Menschen, im Wehen des warmen Sommerwindes: Da gibt es kein Maß, da werden meine kleinlichen Berechnungen von Gewinn und Verlust hinweggespült, da wird mein enges ängstliches Herz geweitet. Eine Momentaufnahme des Paradieses, die demütig und dankbar macht.
Maßlosigkeit und Übermaß, Niedertracht und Überschwang. Als wären Jesu Worte in der Bergpredigt (oder in der Feldrede, wie es bei Lukas heißt) nicht schon hart genug, geht er hier unserem menschlichen Herz besonders auf den Grund.
Wenige Zeilen zuvor machen uns schon die Seligpreisungen unruhig: Selig sind die Armen, die Hungernden, die Dürstenden, die Verfolgten usw. – und wir, die wir reich sind, satt und sicher? Sollen wir nicht auch selig sein und Anteil haben am Himmelreich? Dann die verstörende Lehre von der Feindesliebe, und nun der Ruf zur Barmherzigkeit. Es wird immer unmittelbarer, und nicht ohne Grund ist am Ende von unserem Bruder die Rede, dessen Splitter im Auge wir untrüglich wahrnehmen, den Balken in unserem Auge zugleich aber übersehen.
Letztens las ich auf einer Packung Eiscreme den Werbespruch: „Unser Rezept: Von allem zu viel“. Mehr, viel mehr Sahne, Schokolade und Zucker als nötig wären das Geheimnis für den unwiderstehlichen Geschmack dieser überaus gehaltvollen Eiscreme. Ich glaube, uns Adamssöhnen und Evastöchtern kann Gott auch nicht anders beikommen als mit einem „zu viel“ an Güte, Nachsicht, Stärkung, Trost und Liebe. Denn wir brauchen wahrhaftig reichlich davon, um in der Welt zu bestehen – mit dem, was uns in ihr begegnet, mit dem, was unser Herz darin ersinnt. Wir brauchen Menschen, die dieses „zu viel“ mit uns teilen, es an andere weitergeben, damit der Glaube an das Gute nicht arm und zu klein wird.
Und das Schönste ist: Wir dürfen selber solche Menschen sein, dürfen neue Qualitäten in uns entdecken, wenn auch wir barmherzig sind, wenn wir uns nicht den Mechanismen des Neids, der Missgunst hingeben. Dann können wir nicht nur den Splitter im Auge unseres Bruders sehen, sondern auch den Glanz des Himmels, der sich darin spiegelt.
Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen. Das Maß ist voll, bei Gott, ja! Wir dürfen auf ihn vertrauen und erfahren, was er an Wundern an uns tat und tun wird. Es ist nicht an uns, die Welt zu bessern oder zu belehren.
Wir sind Bettler, das ist wahr, und wir sollten dankbar sein und wieder Ehrfurcht lernen vor dem, der uns gnädig ist und Barmherzigkeit übt weit über unseren Horizont hinaus.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.