Wundern & Werden

Plötzlich öffnet sich eine Tür in eine andere, vergangene Welt – wenn wir z.B. in Fotoalben blättern oder alte Tagebücher zur Hand nehmen, aus verstaubten Umzugskartons ungeahnte Schätze aus Kindheitstagen wieder ans Licht kommen: Was waren das für Zeiten, damals! Wie groß waren unsere Träume, wie ungezügelt unsere Phantasie, und wie klein erscheinen uns heute die Sorgen jener in der Erinnerung schon verblassenden Tage!

Als »unschuldig« werden sie oft bezeichnet, jene ersten Jahre von Menschen, die sich erst noch entwickeln, Erfahrungen sammeln und »reifen« müssen. Als Kind, als Jugendlicher, als Berufsanfänger, ja da wünscht man sich nichts sehnlicher als weiterzukommen, reicher zu werden (auch an Wissen), einen großen Beitrag in der Welt zu leisten und ernstgenommen zu werden – doch ist es dann endlich so weit, wünschen sich nicht wenige schon bald zurück zu dieser verlorenen herrlichen Freiheit des ungeordneten Entdeckens und Ausprobierens.

In der Unvollkommenheit, im Schöpferischen spüren wir das Leben viel unmittelbarer als im gefestigten, beherrschten Alltag. Mit wachsendem Wissen wächst auch die Einsicht, wie unendlich zäh und kompliziert das Leben sein kann, wie viel Zugeständnisse und Kompromisse es oft abverlangt. Da passt sie gut, die Auswahl der Predigttexte zum Sonntag Jubilate:

Es sind Geschichten vom Wundern und Werden. Sie sprechen von der täglichen Erneuerung des inneren Menschen, von Traurigkeit und Wiedersehensfreude, von der Erschaffung einer großartigen Welt aus einem einzigen Tohuwabohu. Die anderen Texte haben wir heute bereits gehört – vom Denkmal des unbekannten Gottes, vom Weinstock und den Reben und eben von der Weisheit, die vor und über aller Zeit steht als wichtiges Bindeglied zu Gottes Liebe zum Leben und zu uns.

Es ist das Wissen, das uns Wege erschließt – es ist die Weisheit, die uns Horizonte eröffnet: Ein feiner, aber manchmal entscheidender Unterschied – und als solcher bitte kein Grund, den alten Streit zwischen Glauben und Wissen wieder aufzuwärmen: Was blinder, von der Realität und Sachverstand entkoppelter Glaube anrichtet, zeigt sich in unserer christlichen Geschichte leider ebenso wie bei manchen Fanatikern und religiösen Eiferern neuerer Zeit.

Blindes Vertrauen mag eine Dimension des Glaubens, manchmal auch der Schlüssel zur Freiheit sein, wo ich nicht weiterkomme: Doch dort, wo menschengemachte Institutionen und politische Ziele hinzutreten, da braucht es unbedingt klaren Kopf und nüchternes Augenmaß.

Und wo Wissen ohne Glauben ist, da hüten wir uns besser vor Hochmut und ungebetener Predigt: Nehmen wir es an als Möglichkeit, etwas zu lernen; leben wir so, dass der Glaube nicht unglaubwürdig wird und in Verruf gerät und bewahren wir getrost die Hoffnung, dass Gott ein wenig auch durch uns spricht und die Wege jedes Menschen auf seine Weise lenkt.

Kehren wir also zurück zum Predigttext: Er stammt aus dem jüngeren Teil des Alten Testaments, spiegelt also seinerseits die Glaubenserfahrungen des jüdischen Volkes. Von Jesus Christus ist da noch keine Rede, und doch finden wir uns in diesen Texten sehr gut wieder, ganz ähnlich wie in den Psalmen: Wo uns im Neuen Testament an manchen Stellen philosophische Spitzfindigkeit herausfordert, da erzählt das Alte Testament einfach vom Leben – vom Hoffen und Scheitern, von dunklen Tälern und Höhenflügen, von tiefen Gefühlen.

Manchmal ist es fast schon abstrakte poetische Kunst, wenn da von Flügeln der Morgenröte die Rede ist oder wie hier die Zeit nicht begegnet als geschichtliche Abfolge von Ereignissen, sondern vollständig aufgeht in der Ewigkeit Gottes und seiner Schöpfung. Plötzlich öffnet sich eine Tür in eine unbekannte und doch merkwürdig vertraut wirkende Welt:

Wir atmen wieder Weite, wie bei einem Gipfelerlebnis oder an einem Meeresstrand treten Alltagssorgen zurück, verlieren wir uns in der Betrachtung und spüren einen großen Frieden. Es ist eine Ahnung vom Eigentlichen, Wesentlichen, die uns da ergreift und in eine heilsame Distanz zum ständigen Kleinklein gehen lässt:

»Tobe Welt und springe, ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh«, so beschreibt es Johann Franck in einer Strophe von »Jesu, meine Freude«, oder um noch einmal H.D. Hüsch zu Wort kommen zu lassen: »Ich bin vergnügt, erlöst, befreit: Gott nahm in seine Hände meine Zeit, mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen, mein Triumphieren und Verzagen, das Elend und die Zärtlichkeit« – kurz all das, was uns zu lebendigen Menschen macht, zu Menschen, die mehr sind als durchrationalisierte, funktionale Arbeitstiere und nützliche Wissensträger.

Die Ehrfurcht vor dem Herrn ist aller Weisheit Anfang, so ist ebenfalls im Buch der Sprüche und in den Psalmen zu lesen. Diese Ehrfurcht weiß das Wissen wohl zu würdigen, will aber nicht dabei stehenbleiben, nicht dem Gegebenen das letzte Wort überlassen, sondern neugierig bleiben, spielerisch, schöpferisch sein!

Als ich meine Frau kennenlernte, habe ich auch nicht den Taschenrechner hervorgeholt, Wahrscheinlichkeiten errechnet und einen Vertrag aufgesetzt. Als ich zum ersten Mal unseren Sohn und später unsere Enkelin auf dem Arm hielt, da gab es keinen Kurs und kein Handbuch, das mich ausreichend darauf hätte vorbereiten können.

Und so erleben wir es immer wieder: An den Krankenbetten, an den Gräbern wie auch in den allerprofansten Situationen, meinetwegen am Bratwurststand auf dem Stadtfest: Da treffe ich unversehens auf ein unerwartetes, offenes Lächeln, fühle eine unausgesprochene Verbundenheit, wenn ich das Geheimnis des Lebens mit anderen Menschen teile. Und versteht man dieses Geheimnis als das Walten Gottes, sieht man darin Spuren seiner Schöpfermacht und seiner Liebe, dann ist sogar eine noch wunderbarere Gemeinschaft im Glauben möglich.

»Siehe, es war sehr gut« – die leuchtende Pracht der Pflanzen, die Vielfalt der Tiere, das satte Grün und die Weite des Kosmos; Himmel, Erde, Luft und Meer – bevor wir Menschen es in die Hände nahmen, nach unseren begrenzten Vorstellungen bis zur Unkenntlichkeit formten um doch nur feststellen zu müssen, dass es mit unserer Weisheit nicht allzu weit her ist.

Wo das Schöpferische unterbunden wird und verstummt, der Ruf in die Weite nicht mehr vernommen wird, da drohen Monotonie, Lichtlosigkeit, Kälte und Tod. Dafür sind wir nicht geschaffen, dazu sind wir nicht bestimmt – und gebe Gott, dass wir das nie vergessen, wo wir schon so oft versucht sind, selber Gott zu spielen.

Gottes gute Schöpfung, sie ist nach den Worten des Apostels Paulus eine »seufzende« – »nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes«.

Dieses Seufzen mischt sich in alle Osterfreude, um die es heute, am Sonntag Jubilate doch eigentlich gehen sollte: Unbeschwerte, sich von allen Belastungen losreißende Freude und befreiter Jubel angesichts der Überwindung von Scham, Schuld und von Gefangenschaft im Tod durch Jesu Auferstehung. Ein neuer Bund, eine neue Schöpfung, die in ein neues Leben führt – denn »so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab.«

So tief war der Mensch gesunken, so unrettbar verrannt und verstrickt in Verblendung, dass kein Urteil auf Bewährung, keine moralische Anstrengung Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Eine bittere Einsicht, die uns hier Ehrfurcht lehrt und zur Weisheit führt. Doch sie muss nicht bitter bleiben:

Wo Ehrfurcht zur Sehnsucht wird, Wissen sich mit Weisheit verbindet und wir nicht stehenbleiben, uns nicht mit schalen Richtigkeiten begnügen, sondern mit beiden Beinen auf dem Boden uns ausstrecken und suchen, nach unserem Ursprung und unserem Ziel, da wird Gott nicht ferne sein. Er spricht zu uns – durch die Schöpfung, durch das Kreuz, durch die Schrift und durch seinen Geist, der frischen Wind verspricht und uns ungeahnte neue Türen öffnet.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.