In genau einem Monat, am 17. November ist wieder Buß- und Bettag, gefolgt vom Ewigkeitssonntag. In den Supermärkten stehen Grablichter im preisgünstigen Sparpack neben Regalen voller Weihnachtsgebäck. Diese Wochen bilden immer eine eigentümliche Zeit, sie stehen unter dem Zeichen des Übergangs: Befinden wir uns noch im bunten Herbst, oder haben wir schon kalten Winter?
Von einem Übergang erzählt auch unser Predigttext, und seine Botschaft ist klar: Wir sollten uns warm anziehen, wenn sich der Sommer unseres Lebens dem Ende zuneigt! Es ist keine sonderlich frohe Botschaft, die er uns bringt: In eindrücklichen Bildern, mehr als Worte es vermögen, führt er uns die letzten Stationen menschlichen Daseins vor Augen:
Zitternde Hände und krumme Knie, Zahnlosigkeit und nachlassende Sehkraft, Einsamkeit und Unsicherheit – und dann der Tod, das Ende aller Herrlichkeit, die Rückkehr zum Staub der Erde.
Das sind sie, jene bösen Tage und die Jahre, von denen wir sagen „sie gefallen uns nicht“. Das ist ganz unverblümt das, was den meisten von uns bevorsteht – überraschend höchstens insofern, dass wir nun ausgerechnet in der Bibel davon lesen, von der wir uns doch immer Trost und Zuversicht erhoffen!
Wie ein mahnendes Prophetenwort, wie eine Endzeitrede oder ein Klagepsalm konfrontiert uns der Text hier mit der Vergänglichkeit – mit der eigenen und der aller Menschen. Worte, die unangenehm berühren, wo wir doch nach vorn blicken sollen, Dankbarkeit, Freude und Wertschätzung empfinden sollten! Die Worte treffen ins Herz, auch weil sie jene dunklen Ahnungen spiegeln, die uns wohl alle schonmal beschlichen haben.
Dabei hat solch ein „memento mori“, das Bewusstmachen der eigenen Endlichkeit in der Kirche durchaus schon eine lange Tradition: Viele Jahrhunderte lang fürchteten sich die Gläubigen vor allem davor, plötzlich und unvorbereitet zu sterben – ohne einen Abschied, ohne letzte Beichte, ohne die Gelegenheit mit sich, Gott und der Welt noch ins Reine zu kommen.
Diese Einstellung begann sich erst im 15./16. Jahrhundert zu wandeln, nach Meinung einiger Forscher vor allem durch das geballte Auftreten von Kriegen, Hungersnöten und der Pest, der fast die Hälfte der damaligen Bevölkerung erlag – Junge wie Alte, Reiche wie Arme: Sie alle wurden ohne Unterschied dahingerafft, und das eigene Überleben nurmehr erlebt als ein Geschenk des Zufalls.
„Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ – vor einem ungewissen Horizont macht so eine Haltung, von der schon der Prophet Jesaja wusste, schnell Schule. Weniger drastisch, aber durchaus vergleichbar sind die Lebensphilosophien, die uns heute begegnen: Genieße den Augenblick, vornehm lateinisch „carpe diem“ – pflücke den Tag, koste jeden Moment aus, auf Teufel komm raus, als ob es kein Morgen gäbe! Als Wanddekoration gibt es diesen Spruch heute schon im gut sortierten Baumarkt zu kaufen.
Jede Stunde meines Lebens als letzte Gelegenheit zu begreifen – macht es das leichter, hilft uns das weiter? Mich schaudert bei dieser Vorstellung:
Ich spüre dahinter den unmenschlichen Druck, nichts unversucht zu lassen, immer und überall möglichst viel „herauszuholen“, ständig Buch führen zu müssen, ob ich auch gut gewirtschaftet habe mit der mir geschenkten Zeit! Manche sprechen dabei vom „gelingenden Leben“ – als ob der Mensch mit Leib und Seele nichts weiter wäre als ein Projekt, das es möglichst erfolgreich abzuwickeln gilt. Ist das nicht grausam und erbärmlich? Mein Leben ist keine Aktie am Markt der scheiternden Existenzen!
Ich möchte mich lieber in Gemeinschaft sehen mit den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Felde, möchte auch einfach mal schweigen und schauen dürfen, die Weite und Poesie des Daseins spüren, von dem ich nur ein unwesentlicher Teil und genau dafür dankbar bin. Ich möchte die Freiheit haben zu kindlicher Freude, die keine Gründe fordert, wie auch Zeit haben für Schwermut, der sich nur langsam setzen kann.
Ich vertraue dem Glauben, der jenseits von Jubel, Lob und Glorie seine ganz eigene, eigentümliche Kraft entfaltet – eine Kraft, die ich nicht lenken und begreifen muss. Er hilft mir, meine eigene Endlichkeit ernsthaft anzunehmen, dabei abzusehen von den vielen brüchigen „Heile-Welt-Theorien“ und nicht zu erschrecken vor dem Horizont jener „ganz anderen“ Ewigkeit.
Meine Endlichkeit, Ihre Endlichkeit und die Ihrer Mitmenschen – auch sie ist Teil der guten, wunderbaren Schöpfung Gottes, die wir doch kürzlich erst zu Erntedank im Rückblick gefeiert haben. Und so hart unser Predigttext zunächst auch klingen mag – ich schätze an ihm die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der er den Tatsachen ins Auge sieht:
„Man wird nicht besser mit den Jahren“, sondern zunehmend seiner Möglichkeiten beraubt und den letzten Kampf ganz sicher nicht gewinnen. Türen schließen sich, ohne dass immer wieder neue aufgehen. „Memento mori“ – bedenke, dass Du sterblich bist: Indem Du Deinen Blick für das Davor und das Dahinter schärfst.
Beides hilft uns, die Frage nach dem „Danach“ besser zu verstehen! Der Tod macht unser gelebtes Leben doch nicht weniger wertvoll, schützens- oder liebenswert: Die silberne Schnur, die goldene Schale – Symbole für etwas Kunstvolles, etwas Kostbares, das jedem Menschen, auch dem stacheligsten und garstigsten Igel gegeben ist und seinem Leben ganz eigenen Glanz und Wert verleiht, jenseits aller zu Lebzeiten errungenen Siege oder Verluste.
„Mensch, werde wesentlich – denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg: Das Wesen, das besteht“! Am Ende steht die neue Schöpfung, fremd und unbegreiflich – am Ende der Welt, am Ende unserer Weisheit, am Ende unseres Lebens.
Wir brauchen uns der Tränen dabei nicht schämen – Gott sieht sie, hat sie in Jesus Christus selbst so oft geweint, und wird sie abwischen von unseren Augen. Wir dürfen stille werden, neu werden und staunen wie die Kinder. Herrliche Tage, die uns heute noch verborgen sind – sie haben ihre Zeit und kommen, wann es Gott gefällt.
So Gott will und alles gutgeht, werden meine Frau und ich in einigen Wochen Großeltern. Letztes Jahr erst hatten wir Silberhochzeit und stellten mit Erstaunen fest, dass nur noch ganz wenige aus der Generation unserer Eltern leben. Bald schon sind wir also die „Alten“ und können schonmal anfangen, uns auf die Prophezeiungen des Predigttextes einzustellen – vielleicht gibt es ja auch so etwas wie „Altersmagerkeit“?
Noch merken wir von alldem nichts, doch es stellen sich natürlich gemischte Gefühle ein: Freude und Dankbarkeit über erfahrenes Glück, gebotene und auch genutzte Gelegenheiten, kleine und größere Erfolge, an denen wir Anteil haben durften. Aber weiß ich wirklich, wo ich womöglich auch Schaden angerichtet habe, andere meine Rechnung zahlen ließ, vorbeiging an dem, was sonst noch auf mich gewartet hat? Auf Wiedergutmachung hoffe ich nicht so sehr, und kann meine Mitmenschen wie auch meine Nachwelt nur bitten, gnädig zu blicken auf meine Taten und meine Versäumnisse.
Ich hoffe aber sehr, dass es mir und meiner Frau vergönnt sein wird, noch einmal Zeit für Träume zu haben: Nicht mehr abgelenkt vom eigenen Recken und Strecken die alte Qualität des Lebens wieder neu entdecken zu können, wieder ans Licht zu holen, was so lange beiseitegeschoben werden musste, wieder näher bei mir, bei Gott sein zu können – und uns allen frei und unbesorgt Herz und Hände füllen zu lassen mit seinen Wundern.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.