Winkende Hände zum Abschied: Immer kleiner werden sie im Rückspiegel. Ein paar Mal noch blicke ich dorthin, winke zurück aus dem heruntergelassenen Fenster, muss aber auch nach vorne auf die Straße schauen und biege schließlich um die Kurve: Es ist vorbei – vorbei der Besuch, die gemeinsamen Stunden, der Austausch, die Ausflüge, Mahlzeiten und Gespräche. Aber wir werden telefonieren, ganz sicher, wenn Zeit dafür ist. Am Wochenende wahrscheinlich. Wir hören voneinander und bleiben in Verbindung.
Es ist ein bemerkenswert langer Abschied, den Jesus im Johannes-Evangelium von seinen Jüngern nimmt: Ganze fünf Kapitel sind gefüllt mit »letzten Worten«, sind Mahnung und Vermächtnis, Trost und Verheißung. In der Fußwaschung gibt Jesus ein Beispiel, einander Diener zu sein. Ein neues Gebot, einander zu lieben, soll sie leiten auch dort, wo ihnen Hass entgegenschlägt und Unverständnis ihr festes Vertrauen mürbe macht.
Jesus ermutigt seine Jünger. Sie sollen wissen: Auch ohne seine sichtbare Gegenwart sind sie nicht alleingelassen, sondern bleiben geliebt von Gott, ihrem Vater – dort, wo auch Jesus ist. Und wo uns die Angst überkommt, weil wir schreckliche Dinge gesehen und erlebt haben, weil Unrecht, Gewalt, Ohnmacht und Tod das Lebens überschatten, da sollen wir uns erinnern, an seine Worte und Taten, da sollen wir die Verbindung aufrecht halten oder erneuern durch das Gebet.
Die Dichterin Nelly Sachs bringt es auf den Punkt: »Gott ist ein Gebet von uns entfernt« – Anruf genügt! So eine unglaubliche Unmittelbarkeit drückt auch unser Predigttext aus: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei.«
Freude empfangen, Vollkommenheit erlangen in stürmischen Zeiten, bei Widrigkeiten, in Nöten und Gefahren – einfach so, gleichsam »auf Knopfdruck«?
Mitte der 50er Jahre begann die amerikanische Psychologin Emmy Werner eine Langzeit-Studie mit 700 Kindern auf Hawaii. Wo wir an Sonnenschein, Palmenstrände und blaues Meer denken, machte sie sich vielmehr Sorgen um diese Heranwachsenden – denn deren Lebensumstände waren alles andere als paradiesisch:
Armut und Kriminalität in den Elternhäusern, Bildungsdefizite und Konflikte zeichneten einen Weg vor, der eigentlich nur zu ähnlich prekären Verhältnissen, in immer neues Elend führen konnte. Zur allgemeinen Verwunderung schaffte es aber ein Drittel dieser Kinder, einen anderen, besseren Weg einzuschlagen:
Trotzdem ihr Leben für viele Jahre hart blieb, es immer wieder mal Rückschläge gab und ihr Umfeld es ihnen alles andere als leicht machte, konnten sie dennoch Fuß fassen im Beruf, gründeten eigene Familien und fanden ihren Platz in der Gesellschaft. Was war anders? Woher nahmen sie die Kraft, die Ausdauer, ihre Hoffnung und Orientierung?
Große Unterschiede in den äußeren Faktoren ließen sich nicht ausmachen, aber eine Gemeinsamkeit fiel den Forschern auf: Jedes dieser Kinder hatte wenigstens zeitweise eine verlässliche Bezugsperson gehabt. Ganz gleich, ob es jemand Verwandtes war, ein Nachbar oder einfach nur ein guter Freund: Wohltäter und Sponsoren waren nicht darunter, aber jemand, der oder die sie im Blick hatte. Jemand, dem es nicht egal war, was die Kinder so alles dachten und taten. Der oder die ihnen klarmachte, dass man besser nicht jeden Mist mitmachen sollte, zugleich aber auch Anerkennung zeigte für ihre alltäglichen Bemühungen, für ihre wiederholten Gehversuche, für ihr Scheitern und ihre kleinen Erfolge.
Die Kinder lernten über diese wenigen, ihnen wirklich zugewandten Menschen etwas ganz Entscheidendes, nämlich dass wer sich Hilfe sucht, sie auch erfährt – nicht immer, nicht überall und schon gar nicht sofort, aber doch hier und da. Es muss offenbar doch nicht alles beim Alten bleiben, es lohnt nicht, sich zu vergraben im eigenen Elend.
Diese Kinder verhärteten nicht, vielmehr öffneten sie sich auch anderen, gaben ihrerseits Hilfe und Unterstützung. Ihr Horizont war folglich weiter als der jener anderen zwei Drittel der Heranwachsenden, sie wussten um mehr Möglichkeiten und schätzten sich selbst viel realistischer ein. Kleine Ursache – große und gute Wirkung!
»Eli, eli – lama asabtani?« Das dunkelste, einsamste aller Gebete, gesprochen von Jesus am Kreuz. Eine andere Abschiedsrede, doch uns ebenfalls nicht unvertraut. Ein Gebet, wie die Not es lehrt: Leer die Hände, der Blick. Ein sich Fallenlassen ins Bodenlose.
Es gibt viele schöne und kunstvolle Gebete, reich an Bildern, melodisch in der Form, zu Herzen gehend, Glauben und Gemeinschaft stärkend. Auch als geliehene Worte können uns Gebete Brücken bauen in ersehntes Neuland oder führen uns zurück zu heimatlich Vertrautem. Gewicht und Wert hat ein Gebet jedoch nur dann, wenn es die gleiche Luft atmet wie wir – wenn es unsere oft schwer artikulierbaren Gefühle zum Ausdruck bringt, das Überfließende wie das Verarmte vor Gott bringt.
Nicht immer passt das Gebet in unseren Alltag. Nicht immer denken wir an Gott, wenn wir unseren Beschäftigungen nachgehen. Viel zu oft drängt sich da anderes hinein, hält uns gefangen, lässt uns nicht links und rechts schauen und manchmal sogar unsere lieben Mitmenschen vergessen. Da ist kein Platz für Unerwartetes und kein Raum für Wunder, wie das Gebet es erschließen könnte, weil es Gott mit hineinnimmt.
Abschiede hingegen sind nichts Alltägliches – es sind besondere Momente, verdichtete Beziehungen, die in Erinnerung bleiben. Wohl auch deshalb spricht Jesus in diesen letzten Abschiedsworten zusammenfassend von der Kraft, vom Segen des Gebets: Wenn alle Stricke reißen, hier findet Ihr zu Euch selbst und zu Gott – haltet Euch daran.
Abschied: Das eine wird immer kleiner, ein anderes immer größer. Dann ist es vorbei, manchmal für kurze, manchmal für lange Zeit, manchmal für immer. In Verbindung zu bleiben gelingt nicht immer, ja selbst angemessen und in Würde Abschied zu nehmen gelingt nicht immer.
Wie viele letzte Worte sind im Zorn gesprochen, wie vieles bleibt ungesagt, wie vieles unerhört? Es kann eine unerträgliche Last sein, wenn Menschen so auseinander gehen, wenn Trennung und Tod schließlich auch die letzte Verbindung abreißen lassen.
»In der Welt habt ihr Angst«, heißt es weiter im Johannesevangelium, »aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden«. Ja, in der großen und unüberschaubaren Welt haben wir manchmal Angst – manchmal sogar vor unserem Nächsten, den wir nicht lieben können, weil er uns das Leben zur Hölle macht. Viel öfter schrecken wir zurück vor uns selbst, wo wir unbedacht, gedankenlos und lieblos waren. Viel öfter finden wir uns weit voraus auf einem Weg, den wir ursprünglich gar nicht gehen wollten, dessen Ende und Ziel uns verborgen, ungewiss und fraglich ist.
Abschiede können weh tun und schmerzen: Abschiede von beruflichen Plänen, von guten Hoffnungen, von Heimat und Beziehung. »Eli, eli – lama asabtani?« fragen auch wir uns an so manchen Scheidewegen des Lebens. Wer so betet, hat keine hochfliegenden Pläne und großen Wünsche mehr. Hier geht es nur noch um das Eine, um nicht weniger als das Ganze.
Beten – ohne schönzureden, was Angst macht in dieser Welt. Beten, um bei aller Angst nicht zu verstummen, sondern hörbar zu bleiben und die Herzenstür offen zu halten für Gottes Werk an uns. »Nur eine schmale Wand ist zwischen uns, durch Zufall; denn es könnte sein: ein Rufen deines oder meines Munds – und sie bricht ein, ganz ohne Lärm und Laut« – wie es im Gedicht »Die Klagemauer« Rainer Maria Rilke beschreibt.
Du, Gott, und ich kleiner Mensch im unvollkommenen Gebet – wir hören voneinander und bleiben in Verbindung, über alle Abschiede dieser Welt hinaus. Du führst uns zu dir, wo alle Wege wieder zusammengehen – damit unsere Freude vollkommen sei.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.