Wach werden an einem neuen Morgen: Für Trauernde oft ein bedrückender Moment. Wenn die Erschöpfung keinen Schlaf mehr schenkt, und die Gedanken wieder zu kreisen beginnen. Wenn all die verstörenden Gefühle wieder kommen und wir jeder ablenkenden Routine beraubt sind.
Wach werden an einem neuen Morgen, der noch im Dunkel der Trauer liegt, das kann man sich nicht wirklich vorstellen, auch wenn der Verlust und der Schmerz absehbar waren.
Wer trauert, der sieht sich und die Welt um sich herum mit anderen Augen. Blind geworden für die bunten Farben des Lebens, gerät anderes in den Blick. Fremdartig erscheint da vieles, und man spürt: Ja, das Leben geht weiter – aber es ist doch ein anderes Leben, ohne den Vater oder ohne die Mutter, ohne den geliebten Menschen.
An dem Platz, den er oder sie in unserem Leben einnahm, ist nun eine Lücke, die sich nicht einfach so füllen lässt – und wir müssen Wege gehen, die wir uns gerne erspart hätten, und auf uns nehmen, was wir eigentlich niemals akzeptieren möchten.
Nicht selten wird es einsam auf diesen Wegen: Es gibt Beileidsbekundungen und Kondolenzkarten, vielleicht auch Umarmungen oder ein gut gemeintes Schulterklopfen, aber bisweilen auch Distanz. Tod und Trauer finden erst langsam wieder einen Ort in unserer Gesellschaft, wo gerne ausgeblendet wird, was unangenehm ist und den eigenen Lebensstil hinterfragt.
Sich auf den Tod vorzubereiten, das war zu früheren Zeiten ganz normal: Das Sterben war allgegenwärtig, es traf tagtäglich und ohne Unterschied Junge und Alte, Arme und Reiche. Die Segnungen moderner Medizin waren nahezu unbekannt, Jenseitshoffnungen bildeten die einzig tröstliche, weil einzig verbliebene Perspektive. Von einer „guten“ alten Zeit mag ich da nicht reden und denke auch nicht, dass Jesus so etwas meint, wenn er seine Jünger zu Wachsamkeit anhält:
„Ihr wisst nicht, wann“ – dieser Satz gilt heute noch, auch wenn die Statistik die Verhältnisse deutlich verschoben hat. Wahrscheinlichkeiten sind nunmal keine Sicherheiten! Der Lauf der Jahreszeiten und viele andere Gesetzmäßigkeiten dienen unserer Orientierung, taugen aber nicht für verlässliche Prognosen meines individuellen Daseins hier auf Erden.
„Ihr wisst nicht wann, darum sage ich allen: Seht euch vor, wachet!“ Tut nicht so, als ginge euch das nichts an, als sei das Ende eine bedauerliche Ausnahmeerscheinung ohne Relevanz für den Alltag!
Nein, es ist mehr, so wie auch unser Leben ja weit mehr ist als nur ein „Leben vor dem Tod“. Grabesstimmung ist das allerletzte, wozu der Predigttext uns einladen und einstimmen will: Er will keinen Schatten werfen auf unbeschwerte Lebensfreude, sondern er will die Längen- und Breitengrade dessen definieren, was wir hoffen und von Gott erwarten dürfen. Und da ist es in der Tat wichtig, klar zu sehen, mit wachen Sinnen zu erfassen und zu begreifen.
Jesus greift in seiner Endzeitrede vorweg, was die Jünger und alle, die ihm nachfolgen schon bald beschäftigt: Sein Tod am Kreuz, seine Auferstehung und Himmelfahrt.
Wir können es drehen und wenden: Da bleibt eine Lücke. Etwas, das weder die Jünger damals noch alle Christen heute oder in Zukunft vollständig ausfüllen können. Gott sei Dank: Das Geschenk des Heiligen Geistes trägt und erhält unsere Glaubensgemeinschaft, die sich aber zugleich nie vollständig frei machen kann von Unsicherheiten und Zweifel, Krisen und Konflikten.
„Ihr Christen habt’s gut, ihr habt ja euren Glauben!“ Wie oft habe ich das gehört und dabei gedacht: Ja, ich und meine Schwestern und Brüder im Glauben haben es tatsächlich gut – aber deswegen keinesfalls leichter als jene, die ihre Lebensbilanz mit ungedeckten Schecks auszugleichen versuchen.
Dass die Gräber nicht die Grenzen unseres Lebens markieren, dass unsere Verbindung zu Gott immer auch eine Verbindung zu Menschen bedeutet: Diese Gewissheit wider den ersten Augenschein muss immer wieder neu errungen werden und wird oft genug auf die Probe gestellt, wenn der Schmerz uns zu hart trifft und unsere Ohnmacht übermächtig wird.
Glaube, Liebe, Hoffnung: Das alles beginnt mit einem Loslassen vor allem jener verbreiteten Illusion, es selbst irgendwie schon richten und retten zu können. Dem Bekenntnis voraus geht das Eingeständnis, auf Gott angewiesen zu sein. Wie wir glauben, aus seiner Hand das Leben empfangen zu haben, so glauben wir auch im Vertrauen auf sein Wort und sein Handeln in Jesus Christus, dass er es auch dort schenkt, wohin unser Blick nicht reicht.
Wenn wir das vergessen, verlieren wir viel, zu viel: Wertvolle Erinnerungen an Erlebtes, an bewegende Momente, an gute Worte, die im Herzen bleiben – das ist der Reichtum, der uns bleibt, wenn ein geliebter Mensch von uns gegangen ist. Das ist der Trost, der uns auch in der tiefsten Trauer erreicht, und der uns Halt bietet, bis wir irgendwann wieder halbwegs normal unseren Alltag gestalten können.
Das alles braucht Zeit, mal mehr, mal weniger. Auch der Glaube braucht Zeit, Zeit und Stille, inneren Frieden, um den Zweifel nicht ständig abzuwehren, sondern zuzulassen.
In beidem dürfen wir Gott vertrauen – dem Gott, der nicht allein im Himmel wohnt, sondern Mensch wurde wie wir und wie wir durch dunkle Täler, ja selbst in den Tod ging. Er weiß um unsere Gedanken, und er wird abwischen die Tränen an dem Tag, da wir ihn schauen dürfen und das Leben feiern auch mit denen, die jetzt nicht mehr in unserer Mitte sind.
Wir wissen nicht, wann. Aber wir glauben an den, der da war, der da ist und der da kommt. Weil wir sein Wort haben, richten wir unsere Worte an ihn im Beten, Danken und Klagen.
Weil wir diese Hoffnung und diesen Glauben haben, würdigen wir selbstverständlich seine Schöpfung, Menschen, Tiere und alle Natur. Wir üben uns in der Kunst der Vergebung und in der Liebe zu unserem Nächsten. Wir zünden ein Licht an, wenn es dunkel wird, und warten so mit allen Menschen auf den großen neuen Morgen, den Gott uns verheißen hat.
Und die Fülle Gottes, die umfassender, höher und weiter ist als wir begreifen,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen