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Unvollendete

„Nicht komplett, aber perfekt“ lautet die Überschrift eines Beitrags vom Bayerischen Rundfunk: Die 19. Fuge aus Bachs Klavierzyklus, Bruckners 9. und Mahlers 10. Symphonie, Mozarts Requiem und natürlich Schuberts „Unvollendete“ – sie alle blieben Fragment, wie auch literarische Werke z.B. von Kafka, Sartre oder Gogol.

Der Brief der Mutter an ihren Sohn, der zwischen schönen Erinnerungen und tiefen Enttäuschungen schwankt und kein Ende findet. Der Liebesgruß, der nur unzureichend die Zuneigung auszudrücken vermag und darum nie verschickt wird. Die Beileidsbekundung, die über Formeln nicht hinauskommt, weil es keine Worte für den Verlust gibt.

Bald geht der Sommer zu Ende: Welche Vorhaben blieben unerfüllt, was wurde aufgeschoben? Wo gibt es eine gute Ernte, was ist vertrocknet und abgestorben?

Perfektion, Schönheit und Erfüllung: All das definiert sich nicht allein vom Ende her. Auch in einer gescheiterten Beziehung, einer verlorenen Freundschaft oder aufgegebenen Gemeinschaft gab es reichlich Sonnenstunden. Haben wir die Wärme denn nicht gespürt und genossen, waren die Fröhlichkeit und das Glück nicht wunderbar und wertvoll?

Im Rückblick sehen wir die Dinge oft anders. Die Perspektive ist verschoben, die Wahrnehmung getrübt. Manches wird im Nachgang verklärt ungeachtet unübersehbarer „Schönheitsfehler“, anderes gnadenlos abgeurteilt und aus den Gedanken verbannt. Doch so eine Verleugnung der Wirklichkeit lässt uns am Ende nur ärmer und noch unvollkommener dastehen.

„Nicht komplett, aber perfekt“ – so beschreibt die christliche Botschaft auch uns Menschen: Vor Gott gerecht gesprochen, obwohl noch immer verstrickt in Schuld und Scham. Befreit und erlöst, obwohl vielfach bedroht und befangen. Wir erleben am eigenen Leib eine Ambivalenz, die verstören, aber auch neue Sicht- und Lebensweisen ermöglichen kann:

Sie hilft, den falschen Stolz und das Streben nach Überlegenheit zu überwinden – so können Demut, Mitgefühl und Vergebung wachsen und uns wieder menschlicher handeln lassen. Sie hält die Sehnsucht wach nach Vollendung, wie sie kein Zeitalter und keine Weltanschauung jemals erreicht haben. Sie hebt den Blick hinaus über unsere Grenzen und die Grenzen dieser Welt.

Ich wünsche Ihnen die Kraft, auch Unvollendetes anzunehmen – und darauf zu vertrauen, dass Gott uns zu dem Ziel führt, wo „unser Mund sei voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens“ (Psalm 126, 2).

Ihr Prädikant Christian Weyer

(Andacht zu einem Programmblatt des Orgelsommers 2025 in der Johanniskirche Plauen/V.)