Meine Weihnachtspredigt vom letzten Jahr liegt noch in der Schublade. Keine Sorge, für heute habe ich mir etwas anderes vorgenommen – doch es gibt eine Verbindung zu jener liegen gebliebenen Predigt und unserem heutigen Predigttext:
Am Abend des 23. Dezember hatte mich meine Mutter angerufen, mein Vater war ganz plötzlich kollabiert und ins Krankenhaus gekommen. Die Prognose war schlecht. Ich bat um Vertretung und fuhr sofort los nach Marburg. Zehn Tage zuvor war ich erst dort gewesen und hatte meinen Vater mit einer Grippe etwas angeschlagen erlebt, aber sonst schien alles in Ordnung. Er hatte als Organist wieder eine Menge Gottesdienste zu spielen und bereitete sich auf sein traditionelles Neujahrs-Orgelkonzert vor. Im Anschluss hatten wir ein Wiedersehen in Plauen verabredet.
Als ich in Marburg eintraf, war mein Vater in der Zwischenzeit erneut kollabiert und nicht mehr ansprechbar. Meine Mutter, mein Bruder und ich wachten den ganzen folgenden Tag an seinem Krankenbett, bis er gegen Abend – an Heiligabend – starb. Für die Todesanzeige wählte meine Mutter eine Liedzeile aus Brahms Requiem: „Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ – Johannes 16, Vers 22: Sicher haben sie den Text wiedererkannt.
Einer geht und wir bleiben zurück. Das macht fassungslos, das macht mehr als traurig. Und wer es selbst erlebt hat, bei sich oder einem nahestehenden Menschen, der weiß: Trauern ist ein Prozess. Es dauert, bis man sich wieder des Lebens freuen kann. Das Durchleben von Trauer verändert uns Menschen: Feste Bestandteile unseres Daseins brechen auf einmal weg, die vertraute Welt gerät aus den Fugen. Was soll nun werden? Mühsam müssen wir uns neu zurechtfinden, wir sind nicht mehr dieselben und müssen uns in einen fremd gewordenen Alltag zurückfinden.
Das ist Schwerstarbeit, die Trauernde da im Verborgenen leisten müssen. Und sie müssen es, damit sie nicht zu Gefangenen ihres Schmerzes werden: Denn das Verleugnen, das Übertünchen, das Einkapseln mag fürs Erste eine bequeme Lösung sein, hat aber einen hohen Preis. All die Fragen und Unsicherheiten: Wir sollten sie annehmen und uns der Tränen nicht schämen, auch nicht des inneren Aufruhrs und Zorns, der dabei aufkommen mag. Wollten wir all das zurückhalten, würde es uns und anderen irgendwann um die Ohren fliegen.
Gefühle kommen aus unserem Inneren, wie eine Quelle entfalten sie oft eine erstaunliche Kraft, die wir nur begrenzt beherrschen können. Wie eine Quelle können sie plötzlich versiegen, oder an anderer Stelle neu aufbrechen und die Landschaft verändern. Eine solche, von uns kaum zu beeinflussende Veränderung mutet uns auch unser Glaube an Jesus Christus zu:
„Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen. Ihr werdet traurig sein.“ Der Predigttext vergleicht diese „kleine Zeit“ mit den Wehen einer Gebärenden: Den Müttern unter Ihnen brauche ich hier nichts erklären, und wer unter den Männern wie ich bei der Geburt seiner Kinder dabei war, der dürfte ebenfalls wissen, dass eine Geburt wenig romantisch verläuft. Bei aller Freude über das kleine Kind – ich hatte noch eine Zeitlang weiche Knie, und habe das alles bis heute nicht vergessen. Dieses Erlebnis hat mich verändert.
Abschiednehmen und neues Leben: Die letzten Worte, der letzte Händedruck – der erste Schrei, das erste Blinzeln. Das sind ganz persönliche Momente, die uns auf unserem Weg prägen, Stationen, wie sie auch der Glaube kennt und die Bibel: Immer wieder und in zahlreichen Variationen erzählt die Bibel von Verwandlungen, von Wanderungen durch Höhen und Tiefen hindurch an ein glückliches Ziel:
Erst letzten Sonntag hörten wir ja in Psalm 23 vom finsteren Tal und dem gedeckten Tisch, und auch unser heutiger Sonntag Jubilate schließt gleichermaßen Passion und Freude in seine Botschaft ein. Echte Freude ist kein billiger Spaß. Freude lässt sich auch nicht verordnen oder erzwingen. Die Freude, die Martin Luther so schön den „Doktorhut des Glaubens“ nannte, sie ist ein Lebensgefühl in unserem Inneren. Jesus hat sie gelebt und sie beschrieben als Freude an Gott. Mit ihm verbunden wird diese innere Quelle nie versiegen. Für ihn war diese Freude vollkommen, weil er sich mit Gott eins und einig wusste. Das können wir von uns leider nicht immer behaupten.
Die „letzten Dinge“, die Wege ohne Wiederkehr: Es gibt sie, und wir alle kennen sie. Kein Wunder, dass auch die Jünger von Emmaus sich fragten, was nach Jesu Tod nun werde. Er war ihre Hoffnung, sie dachten, jetzt hätten alle Widrigkeiten und Schrecken ein Ende. Doch es kam anders als erwartet. Sie suchten vergebens ihn in ihrer begrenzten Vorstellung und merkten erst spät, dass tatsächlich er es war, der Auferstandene, der sie da auf ihrem Weg begleitete. „Bleibe bei uns, denn es will Abend werden“ – diese Bitte wurde auch ihnen nicht gewährt. Er, der im Johannes-Evangelium „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ist, nimmt auch da wieder einmal Abschied.
An den Fragen der Jünger und wie Jesus damit umgeht, daran sehe ich eine große Lebensehrlichkeit. In dieser großen Ehrlichkeit liegt auch die Aussicht auf jene große Freude, die uns niemand mehr nehmen kann. Ernst genommen, angenommen und aus bedrängenden Lebensfragen herausgeholt worden zu sein, ja, das vermag tatsächlich Freude zu wecken und unser Leben zu verwandeln.
„An dem Tag werdet ihr mich nichts fragen“ – aber, so sagte es der Pfarrer bei der Beerdigung meines Vaters, heute schon. Heute stehen wir schon noch da mit unseren Fragen, unseren leeren Händen, unserer Erwartung zwischen Bangen und Hoffen. Doch, so lesen und glauben wir, „unsere Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden“.
Ein kleines Wiedersehen feiern wir aber auch heute, in der Feier des heiligen Abendmahls, wo Christus uns gegenwärtig wird in Brot und Wein. Das Abendmahl nimmt uns hinein in die letzten Stunden Jesu mit seinen Jüngern und zugleich in ihre ersten Begegnungen mit dem Auferstandenen. Das Teilen von Brot und Wein wird so zum Ausdruck christlicher Freude und Hoffnung, von neuer, tiefer Verbundenheit der Gläubigen mit Gott und untereinander.
„Ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ Brahms Requiem greift ganz bewusst die Abschiedsreden Jesu auf. Sie geben dem Verlust und der Trauer darüber den gebührenden Raum, sie lassen es zu Wort kommen – den Schmerz, die Angst, aber auch das Vertrauen auf ihn, den Herrn über Leben und Tod. „Siehe“, so zitiert das Requiem einen weiteren Bibelvers, „ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt – und habe großen Trost gefunden.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.