Kulturreisende haben es in diesen Tagen schwer: Ob Akropolis oder British Museum, Rom oder Venedig – solch reizvolle neue Eindrücke in der Fremde bleiben uns wohl auch in diesem Jahr pandemiebedingt wieder verwehrt. Da könnte man fast neidisch werden auf den Apostel Paulus:
Er kam viel herum in der damaligen Welt, seine Briefe und die Apostelgeschichte zeugen davon. Und er nutzte jede Gelegenheit, mit den Menschen wo auch immer ins Gespräch zu kommen, er war geradezu getrieben von der Sehnsucht nach Austausch und Gemeinschaft.
Wie die Stadt Korinth mit ihrer bunten Mischung verschiedenster Völker und Kulturen lässt sich auch der Aeropag in Athen als eine Art „Szenetreff“ beschreiben: Schon Sokrates hatte dort seine berühmten Streitgespräche geführt, wo nun Paulus sich umsieht. Und bei aller religiösen Vielfalt, die sich in Athen zeigt, reizt ihn eine Sache ganz besonders: Der Altar des „unbekannten Gottes“!
Wir kennen hierzulande ja eher Denkmäler für den „unbekannten Soldaten“ – als traurigen Stellvertreter für so viele junge Menschen, die fern ihrer Heimat in einer der unzähligen Schlachten zweier Weltkriege gefallen sind. Die mit so vielen anderen Namenlosen irgendwo im schmutzigen Schlamm ihre Hoffnung, ihre Zukunft, ihr Leben verloren. Denkmäler sind es auch für so viele Familien, denen ein Sohn, Ehemann und Vater auf diese schreckliche Weise genommen wurde. Da ging es im alten Athen noch etwas zivilisierter zu!
Wofür mag er stehen, jener Altar des „unbekannten Gottes“? Eine Sicherheitsvorkehrung vielleicht: Man kann ja nie wissen. Ein Eingeständnis der eigenen Grenzen, was Glaube und gesichertes Wissen angeht. Auch das ein seltenes Gut in unserer Zeit!
Umfragen zufolge meinen mehr als 70% der Ostdeutschen, ohne Gott auszukommen. In Westdeutschland dürfte das ähnlich aussehen, und das scheint hüben wie drüben auch ganz gut zu funktionieren: Vermutungen, wonach dies am zu großen Wohlstand läge, an einer Übersättigung, erwiesen sich als falsch.
Er ist nicht selbstverständlich, jener Hunger nach Halt und Sinn, der die Menschen wieder in die Kirche und zum Glauben führt. Deutlich gestiegen ist in den letzten Jahren tatsächlich nur der Umsatz von Glas-, Gips- und Porzellanengeln, die offenbar als spirituelles Fastfood den meisten bereits genügen.
Würde Paulus heute auf unseren Märkten und Gassen stehen, wäre er wohl erstaunt über diesen Gleichmut, wie auch über den heftigen Unmut, der da in der Gesellschaft mitunter gegen alles und jeden hervorbricht. Ich wage zu behaupten, dass sich neben gewisser Engstirnigkeit dahinter auch viel Resignation verbirgt, und eine quälende, schwer fassbare Sehnsucht. Meine Frau hat ihre Predigt heute mit dem Satz begonnen: „Die Suche hört nie auf“ – und ja, da ist was dran!
So ein Altar ohne konkreten Gegenstand kann als Ausdruck einer Sehnsucht verstanden werden, gleichsam als Symbol für geistiges Fernweh: Man schaut Flugzeugen und Schiffen hinterher und träumt sich an einen fernen Strand oder auf eine duftende Bergwiese unter wolkenfreiem Himmel.
Auch Sehnsüchte schaffen Verbindung, auch Träume halten im Gedächtnis, was hinter dem Horizont und vielleicht eines Tages wieder erreichbar ist.
Der Altar des unbekannten Gottes markiert eine Leerstelle, er erinnert an die Lückhaftigkeit unserer Vorstellungen und Gewissheiten – und ich hätte große Lust, so einen Altar, so ein Denkmal mitten in der Plauener Innenstadt und an vielen weiteren Orten aufzustellen! Aber würde das letztlich etwas ändern?
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer warnte davor, Gott und den Glauben als Lückenbüßer zu mißbrauchen. Er schrieb: „Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen… Gott ist mitten in unserm Leben Jenseits. Die Kirche steht nicht dort, wo das menschliche Vermögen versagt, an den Grenzen, sondern mitten im Dorf“ – und da sollen wir die Kirche ja bekanntlich auch lassen.
Vielleicht ist das ja eine der Lektionen dieser Tage: Wir leben, bewegen uns und sind in Gott, mitten im sog. Lockdown. Gottesdienste und Kirchenräume dienen nicht dazu, dem Alltag zu entfliehen – sondern mir gerade genug Abstand zu ermöglichen, dass ich Gottes Spuren im Gewöhnlichen entdecke: Frei vom gewohnten Trott, über den ich mich ja früher immer so aufgeregt habe, frei von Ablenkungen, frei für den nüchternen Blick auf mich und die Welt.
Ja, es ist stiller geworden um uns – das ist nicht nur angenehm, aber es ist auch mal an der Zeit, um besser hören und wahrnehmen zu können, was mit uns und um uns herum geschieht.
Was wir vor Corona als normal empfanden, war in Gottes Augen doch tatsächlich schon längst Krise. Was nach Corona kommt, ist keineswegs das verlorene Paradies: Das Ende der Pandemie macht längst nicht „alles wieder gut“, nicht für so viele unserer unbekannten Mitmenschen in anderen Ländern, nicht für die geschundene Schöpfung und auch nicht für uns Privilegierte, die wir uns immer sehr schnell wieder sehr sicher wähnen.
Es ist Zeit – Gottes Zeit. „In ihm leben, weben und sind wir“ sagt Paulus, und zitiert damit einen damals populären Dichter. Er knüpft an das den Menschen seiner Zeit Bekannte, er „nimmt sie mit“, wie man heute so schön sagt. Solange es unterhaltsam ist und schmeichelt, mag das gutgehen, solange der Intellekt, guter Wille oder vielleicht auch ein wenig Naivität mitspielen. Aber dieser gemeinsame Weg endet an der Rede von der Auferstehung, und im Grunde sogar schon vorher:
Der leidende und gekreuzigte Christus steht nicht nur als Sinnbild für unsere Ohnmacht und Grenzen, er steht auch mitten unter uns – stellvertretend für das Leiden so vieler anderer, Ungesehener, die unseren Schutz und unsere Solidarität nicht erfahren. Das Kreuz und der Schmerzensmann, sie sind mehr als christliches Kulturgut: Sie halten uns den Spiegel vor, dass ein Virus in all seiner Bedrohlichkeit noch die geringste Sorge ist in dieser alten, in vieler Hinsicht beschwerten Welt.
Und so tasten wir uns beladen mit Schuldgefühlen und Selbstzweifeln, Bonhoeffer hin oder her, an diese geheimnisvolle Wahrheit heran, die wir als Gnade beschreiben. Ich sehne mich danach und möchte nur zu gern jeden grünen Zweig, jeden Schluck Wasser, jedes gerettete Leben als ein „Ja“ Gottes für mich und die Welt begreifen. Ich möchte das als Wahrheit begreifen lernen, im Glauben für mich beanspruchen und zugleich weiterhin auf der Suche bleiben: Sein ist die Kraft und die Herrlichkeit – da muss ich nicht unbedingt glänzen, sondern kann Gott seine Macht lassen und mich ihm anvertrauen.
Paulus, der große, weltgewandte Apostel konnte das – freilich erst, nachdem er durch eine harte Schule gegangen ist und immer wieder neue, teils bittere Lektionen lernen musste. Er kannte das Zwiespältige der Menschen: Ihre Fähigkeit zu Großartigem und zu Grausamen, zu Meisterleistungen und zu erdrückender Stumpfheit. Inmitten all dessen stößt Gott die Tür auf zu einer neuen Welt: Sie steht offen für unsere Sehnsüchte wie unser Versagen, für die Anteilnahme an der gefallenen Schöpfung und der schwachen Hoffnung unseres Glaubens.
Es ist Zeit – Osterzeit, Sonntag Jubilate, das Fest der neuen Schöpfung. Ich lege die dunklen Farben darum nun beiseite, denke an das Kreuz auf unserem Altar und freue mich, dass ausgerechnet er und nicht irgendjemand es war, der unserer Sehnsucht ein Ziel gesetzt hat: Den neuen Himmels und die neue Erde, nicht mit Menschenhänden gemacht, sondern verheißen vom Herrn der Schöpfung.
Wenn diese Schöpfung in den nächsten Tagen um uns herum erwacht, das Vogtland wieder grünt und frisch erblüht, dann denken wir an diese Verheißung, freuen uns an ihr und hoffentlich daran, dass Gott schon hier und heute in unserer Mitte ist.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.