„Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer“. Diesen Bibelvers las ich jüngst auf dem Grabkreuz eines Kindes. Gleich daneben stand ein zweites Grabkreuz – das seines Bruders, der ein Jahr zuvor verstorben war. Es drängt sich geradezu in Gedanken auf, das Bild von der Mutter, wie sie vor den beiden Gräbern steht, in dem nicht nur ihre beiden Kinder, sondern auch ihre Hoffnungen und Träume für ein gemeinsames Leben begraben liegen.
„Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe; denn es ist hier kein Helfer“ – das war ihr Gebetsruf, der dort auf den Grabkreuzen stand. Ein aufwühlender, mutiger Satz, der nicht davor zurückschreckt, Zweifel laut werden zu lassen und, ja, Hilflosigkeit auszudrücken – nicht nur des Betroffenen, sondern auch seiner ganzen Umwelt. Hier ist kein Helfer! Hier stehen alle nur mit großen Augen, aber leeren Händen und stummen Herzen, oder gehen schnell vorbei.
Dieser Gebetsruf findet sich im 22. Psalm mit der Überschrift „Leiden und Herrlichkeit des Gerechten“, und der erste Satz daraus ist uns noch allen aus der Passionszeit bekannt, wo Jesus am Kreuz ruft: „Mein Gott, mein Gott – warum hast du mich verlassen?“ Hilflosigkeit und Gottesferne – das sind unleugbare Realitäten auch im Leben eines Gläubigen, das ist auch die Wirklichkeit, in die die christliche Botschaft spricht.
Die christliche Botschaft hat keine Scheu vor der Wirklichkeit: Sie verharmlost nicht und verschweigt nicht die Abgründe, die sich vor uns Menschen mitunter auftun. Sie ist es nicht, die alles unter das Gebot stellt, sich leicht, locker und gutgelaunt zu präsentieren; sie gibt sich aber auch ebenso wenig dafür her, mit Weltuntergangsstimmung alles schwarz malen zu wollen. Die christliche Botschaft scheut sich nicht, die Grenzen des Lebens in den Blick zu nehmen, weil sie uns darüber hinausschauen lässt.
Das ist ein wesentlicher Punkt. Wesentlich, weil er uns durchaus in Konflikt bringt mit Menschen, denen diese Botschaft fremd bleibt: Nächstenliebe, auf eine höhere Gerechtigkeit vertrauen – da gehen viele mit, das kann man noch gut nachvollziehen und akzeptieren. Aber Gericht und Erlösung, Tod und Auferstehung – das sind heiße Eisen, die man lieber links liegen lässt: „Das Leben geht weiter!“
Der Blick der christlichen Botschaft auf die Grenzen unseres Lebens ist aber auch darum wesentlich, weil wir darin erkennen, dass wir nicht alles aus eigener Kraft leisten müssen. Die Mutter am Grab ihrer Kinder kann ich nicht trösten mit allgemeinen Weisheiten oder mit Worten, die ich mir ausdenke, und mögen sie noch so schön und beruhigend klingen. Jesus spricht: „Ich will den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: Den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und erkennt ihn nicht.“
Trost fängt mit der Wahrheit an – ja, das muss er wohl, denn sonst wäre es kein echter Trost, sondern bestenfalls ein die Verletzung kaschierendes Trostpflaster. Und offen für die Wahrheit muss dabei nicht nur der zu Tröstende sein, sondern auch der Tröster: Es gibt nicht die Wahrheit des einen und die Wahrheit des anderen – darum Vorsicht mit vorschnellen Worten, wenn man anderen gut zureden möchte: Man stellt sich unter den gleichen Anspruch, muss das Gesagte auch für sich gelten lassen. Das ist gar nicht so leicht!
Die Suche nach Wahrheit ist immer ein gemeinsamer Weg, wie auch das Spenden von Trost einen gemeinsamen Weg voraussetzt. Und wenn man sich mit einem Menschen auf diesen Weg begibt, ist nur schwer vorherzusehen, wie lang dieser Weg sein wird: Trost braucht viel Geduld, viel Verständnis und Ausdauer. Man muss sein Lebenstempo dem anderen anpassen, seine Ohnmacht und seinen Schmerz aushalten können, ohne selber müde zu werden. Auch das ist gar nicht so leicht!
Und darum gelingt Trost selten ohne Liebe – das Wort, das im Johannes-Evangelium am häufigsten begegnet. Wenn ich jemanden trösten möchte, kann ich nicht erwarten, dass er sich groß um mich bemüht, es mir leicht macht oder mir meine Anstrengungen hinterher anrechnet – auch Tränen machen blind. „Trost spenden“ heißt darum vor allem „Trost schenken“. Jegliche Anspruchshaltung wäre hier verfehlt und würde meine Bemühungen ins Leere laufen lassen: Wie die Liebe hat Trost mitunter etwas Schmerzliches an sich, wenn das Leiden des anderen nachempfunden und miterlebt wird, wenn ich es nahe an mich herankommen lasse, es mir wirklich zu Herzen nehme.
Wahrheit, Gemeinsamkeit, Liebe und Nähe – all dies verbindet sich im Trost, all dies leistet jemand, der als Tröster zu uns kommt, all das ist wesentlich. Es geht gar nicht so sehr um das schnelle „Alles-wieder-gut-machen“: Das wäre ein viel zu hoher Anspruch nicht zuletzt an den zu Tröstenden. Trost und Hoffnung brauchen Zeit, Zeit zum Wachsen, zum Reifen.
Jesus spricht: „Ich will den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: Ihr aber sollt mich sehen, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben“. Heute, nach zweitausend Jahren Christenheit fällt es schwer sich vorzustellen, wie trostbedürftig die ersten Gemeinden waren: Bei dem Wort von „Gottes Nähe“ hatten sie noch ganz andere Vorstellungen, sie hatten Jesus als Menschen vor Augen, der sichtbar in ihrer Mitte war. Und trotz der vielen überlieferten Abschiedsreden Jesu, trotz seiner Erscheinung als Auferstandener, trotz seiner Zusagen waren sie zunächst einmal gründlich verunsichert, erschrocken und hilflos.
Das Leben ging weiter, auch für die Christen damals, und auch für die Christen damals war das überhaupt kein Trost. Trost – und damit neues, wertvolles Leben – wuchs Ihnen von anderer Stelle zu: Als sie merkten, dass auch solche Menschen von Jesus und seiner Botschaft berührt wurden, die ihn zu Lebzeiten gar nicht gekannt hatten. Als sie spürten, dass von ihrer Gemeinschaft etwas ausging, das die damalige Welt veränderte, ohne dass sie revolutionäre Umstürze planten. Als Wahrheit, Gemeinsamkeit und Liebe immer mehr Raum fanden in ihrer Welt und spürbar werden ließ, was sie bis dahin nur in der Nähe ihres Herrn verspürt hatten – da gewannen sie Sicherheit, neuen Mut und fanden wieder ihren Weg ins Leben.
Trost öffnet Türen zum Leben. Er leugnet die Wirklichkeit nicht, sondern lässt über sie hinausblicken – so, wie es Jesu Kreuz und Auferstehung tun. So wie wir darin zugleich in einen Abgrund und in den Himmel blicken, so will uns Gott mit seiner Nähe und der Zusage seiner nicht endenden Liebe trösten: „Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf“.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.