Tiefenmesser

Eigentlich kann man das so nicht stehen lassen! Unser Predigttext ist herausgelöst aus seinem Kontext, und das macht ihn missverständlich. Betrachtet man die ganze Geschichte, wird schnell klar, dass dieser kurze Abschnitt nicht die komplette, vollständige Botschaft des alttestamentlichen Buches Hiob wiedergibt.

Hiob ist ein frommer und gerechter Mann, geradezu wie aus dem Bilderbuch: Er hat Familie und genießt einen gewissen Wohlstand, weiß dies aber vor allem und zu jeder Zeit als Geschenk Gottes zu nehmen und hadert darum auch nicht, wenn es mal nicht so rund läuft. Doch diese Haltung wird in Frage gestellt, nachdem der Satan Gott zu einer Wette anstiftet und Hiob einem regelrechten Crashtest des Glaubens unterzieht: Haus, Hof, Kinder – alles verliert er, wird schließlich auch noch schwerkrank und ist seither unrühmlicher Namensgeber für sog. Hiobs-Botschaften, wenn Nachrichten von schlimmen Ereignissen zu überbringen sind.

Erst ganz am Ende, nachdem Hiob mit seiner Frau und seinen Freunden debattiert und seinem begreiflichen Unmut so wie hier Luft gemacht hat, da wendet sich das Blatt. Gott redet zu Hiob, rückt ihm sicherheitshalber nochmal den Kopf zurecht, und nach und nach kehrt man wieder zu geordneten Verhältnissen zurück. Ende gut, alles gut – oder etwa nicht?

Gestern, als ich die Predigt schrieb, schien draußen die Sonne: Es war herrlichstes Badewetter, es gab keinen Anlass zu düsteren Gedanken. Vielleicht geht es Ihnen jetzt auch so: Das gute Ende, darüber wollen wir etwas hören – und nicht über den offenkundigen Frust von Hiob, der ja nur vorübergehend war. Aber ich bin nicht baden gegangen, jedenfalls nicht gestern, und ich möchte beim Predigttext bleiben, so wie wir ihn gehört haben, ohne Vorgriff auf späteren Trost.

Denn wenn die Bibel uns Worte leiht, dann tut sie das im Buch Hiob in ganz besonderer Weise. Wir finden uns darin wieder, in der Klage, im Seufzen, im Recht haben und Recht bekommen wollen. Das ist völlig natürlich und sollte nicht gleich als vermessene Sünde abgetan werden:

Es geschieht doch so vieles in der Welt und in unserem Umfeld, dass uns empört und keine Ruhe lässt: Wo wir uns bemühen und der Erfolg dennoch ausbleibt. Wo wir geholfen und vielleicht viel geopfert haben, ohne dass es gesehen und gedankt wird. Wo wir unsere Hände gerührt haben wie andere, vielleicht sogar noch mehr als andere, und uns am Ende trotzdem auf der Verliererseite sehen.

Hiob belässt es aber nicht bei den irdischen Gütern, er greift sogar Glaubensfragen auf. Ausgerechnet mein Lieblingspsalm 139 wird von ihm umgedeutet: Wo im Psalm die Rede von der Allgegenwart Gottes ist, wohin ich mich auch wende, „und nähme ich Flügel der Morgenröte und flöge ans äußerste Meer“, so schildert uns Hiob einen absolut verborgenen Gott.

Hiob kann sich drehen und wenden, in alle Himmelsrichtungen – doch Fehlanzeige: Gott ist nirgends auszumachen, nirgends zu spüren, nirgends zu sehen. Unbehagen stellt sich ein, wie zu Karfreitag, als Jesus am Kreuz fragt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Wir hören solche Fragen und solche Schilderungen nicht gern. Zu sehr erinnern sie uns an die ewigen Kritiker, die uns vorhalten: Wo ist denn nun dein Gott? Warum hat er denn nicht eingegriffen, nicht geholfen? Ja, wenn wir das wüssten! Hiob bekommt von seiner Frau auch genau das zu hören, für sie ist die Sache ganz einfach: Wenn das eine so ist, muss das andere automatisch so sein. Wo Unrecht und Not herrschen, kann es keinen lieben Gott geben, fertig, aus. Das ist freilich eine billige Holzfällerphilosophie, die weder durch Scharfsinn noch durch besondere Weitsicht glänzt.

Es gibt aber noch andere Ratgeber – Hiobs Freunde, die ihm als eifrige Hobbytheologen nicht minder das Leben zur Hölle machen: Auch sie keine Meister im Aushalten unbefriedigender Situationen, stattdessen basteln sie an immer neuen Erklärungen, damit ihr Welt- und Gottesbild von Hiobs Leid nicht ins Wanken gebracht wird: Schau doch mal genauer hin, da muss es irgendwo eine versteckte Sünde geben, als deren Strafe nun all dein Elend zu verstehen ist – denn nicht sein kann, was nicht sein darf!

Wer mal so richtig in die Grube gefallen ist, kennt diese Art Schlaumeier, die dann wie unbeteiligt am Rand stehen, auf einen herabschauen und altklug den Kopf schütteln. Schwere Schicksale werden so oft zusätzlich erschwert durch das Alleingelassensein, das Unverständnis, die stillen Vorwürfe, mit denen andere – vielleicht auch ehmalige gute Freunde oder engste Verwandte – letztlich nur ihre heile Welt in Sicherheit bringen wollen. Ihre Sache!

„Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“: Auch wenn Hiob nicht unbedingt demütig wirkt in seinem Verhalten, in seiner Haltung ist er es. Er gibt das letzte aus der Hand, an das ein Mensch sich klammern kann. Er lässt Gott im Dunkel wohnen:

Jener „deus absconditus“, jener unseren Sinnen und Hoffnungen verborgene Gott findet tatsächlich Raum in Hiobs Glauben. Er bindet ihn nicht an vermeintlich unerschütterliche Wahrheiten, unterwirft ihn nicht festen Glaubensvorstellungen, ja nicht mal den ganz bescheidenen eigenen Hoffnungen: Hiob lobt Gott auf eine uns befremdlich anmutende Weise, mit Furcht und Schrecken, mit einem verstummenden und doch lebendigen Glauben.

Können wir als Christen ebenfalls einen solchen Glauben bekennen, eine Kirche darauf bauen und Gemeindeleben gestalten? O ja, und wir können es nicht nur, wir müssen es sogar auch! Drei Quellen sind es, aus denen sich nach altkirchlicher Lehre der Glaube speist: Oratio, das Gebet, Meditatio, die Besinnung, und Tentatio, die Anfechtung, die uns die Augen öffnet für das nicht Fassbare, für das Dunkle und Unergründliche von Gottes Wirklichkeit. Sie verschlägt uns schnell die Sprache, und das ist manchmal auch besser so.

Manchmal freilich ist es hart und beinahe unerträglich, an dieser Grenze zu stehen. Dieser durchaus zentrale Aspekt des Glaubens fordert uns heraus, zeigt uns die eigene Ohnmacht, gibt dem Wort vom Geschenk der Gnade auf einmal einen ganz neuen Klang.

Vielleicht sind wir ein wenig verwöhnt vom Sonnenschein, wenn wir von dunklen Stunden nichts hören wollen. Vielleicht sind wir noch nicht fertig mit dem, was uns aus früheren Tagen noch auf der Seele lastet. Vielleicht suchen wir die Ablenkung vor dem, was dunkel am Horizont erscheint. Das wäre völlig normal, aber wir sollten da nicht stehen bleiben.

Wenn die Bibel uns Worte leiht an den Stationen unseres Lebens, dann tut sie das im Buch Hiob in ganz besonderer Weise. Wir finden uns darin wieder, in der Klage, im Seufzen, im Recht haben und Recht bekommen wollen: Hiob sucht nicht mehr den gnädigen Gott eines Martin Luther. Er sucht den redenden Gott, der nicht nur auf unser Rufen antwortet, sondern seine eigene Sprache und Stimme hat. Der nicht Wunscherfüller, Glücksbringer oder Weltendeuter ist, sondern frei für sich steht und alle Vorstellungen sprengt. Dessen Wahrheiten mitunter auch schwer zu verdauen sind.

„Fürchte dich nicht“, so heißt es immer in der Bibel, wenn Gott sich Menschen zuwendet. Was uns im Glauben fest beheimatete Christen meist eher verwundert, wird vor diesem Hintergrund verständlich und einmal auch unsere eigene Sprachlosigkeit überwinden.

Fürchte dich nicht: Gott hat nicht immer schnellen Trost, wird heute und morgen noch keinen Umsturz widriger Verhältnisse herbeiführen und führt euch nicht zurück in gute alte Zeiten. Fürchte dich nicht: Auch wenn deine Welt in Brüche geht und dir um Leib und Seele bange ist.

Fürchte dich nicht: Gott ist Herr über Leben und Tod, über Zeit und Ewigkeit, und er kennt deine wie aller Menschen Wege. Ein schreckliches wie wunderbares Geheimnis, vor dem wir da stehen – und eine Hoffnung, die mit tiefen Wurzeln aus dem Verborgenen wächst.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.