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Tagfalter

Wenn ich die Wohnung meiner Großmutter betrat, fiel mir immer gleich ein Wandbild ins Auge: Die „betenden Hände“ von Dürer. Nachempfunden als kleine Bronzeplastik gaben sie nicht mehr viel zu erkennen von der originalen Zeichnung, mit all ihren feinen Linien und Schattierungen. Im Grunde war es fast schon billiger Kitsch: Aber es hat sich mir als Kind eingeprägt als Ausdruck einer robusten Frömmigkeit, die sich von derlei Stilfragen nicht irritieren ließ.

Wie sieht es bei uns aus mit der Kunst des Gebets? Pflegen wir das Gebet als eine Selbstverständlichkeit, die uns im Alltag begleitet? Oder ist es eher eine auf den Sonntagsgottesdienst beschränkte Ausdrucksform unseres Glaubens? Viele Menschen besinnen sich auch erst in der Not auf das Gebet, sehen es als ein letztes Mittel: „Jetzt hilft nur noch beten!“

Ja, das Gebet kennt viele Formen. Nicht alle sprechen uns an, sind uns geläufig. Nicht immer passt es zu unserem Alltag. Menschen, die mit Religion nichts anzufangen wissen, machen sich auch gern darüber lustig: Über die gefalteten Hände, den gesenkten Blick, den Ernst der Worte. Solche Menschen können nicht verstehen, warum man nicht lieber sofort anpackt, die Dinge angreift und zu verändern versucht: Als Zeichen von Mitleid, Fürsorge und Nächstenliebe wäre das doch viel überzeugender!

Vor achtzig Jahren begann der 2. Weltkrieg, dem schon ein erster vorangegangen war, und dem unzählige kriegerische Auseinandersetzungen folgten – bis heute: Heute blicken wir mit Sorge in den Nahen Osten oder in die Ukraine. Fast schon vergessen sind die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien, die Kämpfe in Tschetschenien, in Nahost, Afrika und vielen anderen Ländern. So viele Opfer. So viele Täter. So viel unfassbares Leid, so viel Verzweiflung, Angst und Not unter den Menschen geht damit einher.

In solchen Zeiten, in solchen Situationen wird auch immer viel gebetet, von Christen, Juden, Muslimen, religionsübergreifend und wahrscheinlich sogar von Menschen, die sich gar keiner Religion zugehörig fühlen. Hat es was genützt? Der Dichter Reinhold Schneider schrieb vorahnend im Jahr 1936:

Allein den Betern kann es noch gelingen, das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten
und diese Welt den richtenden Gewalten durch ein geheiligt Leben abzuringen.
Denn Täter werden nie den Himmel zwingen: Was sie vereinen, wird sich wieder spalten,
was sie erneuern, über Nacht veralten, und was sie stiften, Not und Unheil bringen.
Jetzt ist die Zeit, da sich das Heil verbirgt und Menschenhochmut auf dem Markte feiert,
indes im Dom die Beter sich verhüllen, bis Gott aus unsern Opfern Segen wirkt
und in den Tiefen, die kein Aug‘ entschleiert, die trocknen Brunnen sich mit Leben füllen.


Das Wohlergehen von Menschen, von der ganzen Welt von der Fürbitte der Gläubigen abhängig zu machen – das ist ein ziemlich gewagter Ansatz: Steht das nicht im Gegensatz zur christlichen Bescheidenheit? Ist das nicht geradezu vermessen und überheblich?

Was heißt es denn, wenn wir beten? Ein Stück weit ist es eigentlich viel mehr als nur ein Ausdruck von Bescheidenheit – es ist eine Armutserklärung. Im Gebet drücken wir nämlich aus, dass wir Hilfe brauchen: Dass wir beim besten Willen einfach nicht fertig werden mit dem, was uns vor Augen steht, weder mit den großen Nöten dieser Welt noch mit unseren kleinen Sorgen im Beruf, in der Familie oder im Freundeskreis.

Wir setzen unser Vertrauen daher nicht mehr allein nur auf uns und unsere Fähigkeiten: Auf dem Boden der Tatsachen stehend strecken wir uns aus nach Gott. Diese Einsicht in die Begrenztheit unseres Wissens und Könnens lässt uns aber auch unsere Mitmenschen in einem anderen Licht betrachten: Wir vergeben ihnen, denn sie wissen oft nicht, was sie tun.

Wir bitten für die Könige und für alle Obrigkeit, denn das sind ja auch nur Menschen. Der Arzt als Halbgott in Weiß, der allmächtig scheinende Sachbearbeiter auf der Behörde, mein strenger Vorgesetzter – auch sie bedürfen alle der Gnade, des Erbarmens, des Beistands Gottes und der Menschen, auch und gerade dann, wenn sie das nicht wahrhaben wollen.

Wir, schreibt Paulus an anderer Stelle, sind alle Sünder und ermangeln des Ruhms – wir, und auch sie. Wir sind alle Geschöpfe Gottes und Kinder seiner Gnade – wir, und auch sie. Unsere Hilfsbedürftigkeit, unsere Hoffnung und Gottes Heilszusage ist nicht etwas, das nur Einzelnen gilt: Denen etwa, die regelmäßig in den Gottesdienst kommen, oder denen, die zufällig die einzig richtige Konfession haben. Darum ist das Gebet auch nicht geeignet, mich vor Gott und den Menschen groß in Szene zu setzen:

Im Gebet mache ich mich vielmehr klein und gemein mit allen Menschen, die ich dann auch nicht mehr verachten und verurteilen kann. Im Gebet werden keine Unterschiede gemacht, gilt kein „mehr oder weniger“, kein besser oder schlechter. Das Gebet kennt nur ein einziges Qualitätsmerkmal: Dass Gott sich mir zuwendet, mich anhört, weil ich ihm am Herzen liege.

„So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen“ – als eine Form der Besinnung und der Buße? Ja, denn ein Gebet wirkt immer auch nach innen. Wenn wir beten, ob mit eigenen oder nachgesprochenen Worten, lassen wir den Lärm und die Hektik, alle Ablenkung und die Ausflüchte zurück und kommen wieder zu uns selbst.

Wo bist Du? fragte Gott Adam, als dieser von der verbotenen Frucht gegessen und sich versteckt hatte. Was hast Du getan? fragte Gott den Kain, der seinen Bruder erschlagen hatte. Im Dialog mit Gott kommen wir wieder zum Kern der Sache. Im Gebet geht es wirklich um uns, um unsere Beziehung zu Gott und zu unseren Mitmenschen.

Und darum wirkt ein Gebet immer auch nach außen. Dass wir Christen beten, ist immer auch ein Zeichen unserer Hoffnung, unseres Vertrauens, unserer Weltsicht – das mögen Kirchenferne vielleicht komisch finden oder belächeln, für manchen kann es aber auch zu einer Einladung werden, loszulassen, frei zu werden, mit uns zu lernen und sich neu zu orientieren.

Dass wir Christen beten, ist immer auch ein Ausdruck von Solidarität, von Sympathie, von Mitgefühl und menschlicher Nähe: Wohl keiner, der nicht schon Durststrecken zu bewältigen hatte, keiner, der nicht von Zweifel gelähmt Hoffnung und Zutrauen verloren hat. Da tut es gut, Mitbrüder und –schwestern um sich zu wissen, die für mich, für dich, für schwierige Menschen in unserem Umfeld beten und ihre Sache vor Gott bringen.

Aber nochmal: Nützt das denn was, dieses Beten? Die Frage muss erlaubt sein, denn sie ist berechtigt. Was mir auf der Seele liegt, was ich vor Gott bringe, das ist mir schließlich nicht gleichgültig. Und darum, und weil sich nicht alles so erfüllt, wie wir es gehofft und erbeten haben, ist das Gebet schließlich auch ein Ort der Klage. Wir dürfen darin alles vor Gott bringen, was uns bewegt. Unsere Freude. Unseren Schmerz. Unsere Schwächen. Unseren Zorn. Einfach alles.

Und so, wie sich die Dinge manchmal in einem neuen Licht zeigen, wenn wir sie mit dem Ehepartner, KollegInnen oder einem guten Freund besprechen, so bleiben wir im Gebet vor Gott davor geschützt, uns in etwas zu verrennen und wie Insekten im Dunkel um ein kleines Licht zu kreisen, bis die Erschöpfung siegt.

Wir dürfen alles hoffen, müssen aber auch vieles fürchten und mitunter sogar Sprachlosigkeit aushalten, wenn wir an den Abgründen des Lebens stehen. „Wachsen im Gebet, das heißt auch: Wachsen ins Schweigen, bis wir vielleicht nur noch drei, vier Worte finden, vielleicht nur noch ein Bild, und vielleicht brauchen wir irgendwann einmal kein Bild und keine Worte mehr“, schreibt der Theologe Fulbert Steffensky.

Schweigend vor Gott zu treten kann also auch eine Form des Gebets sein. Wir alle kommen einmal an diesen Punkt, wo wir mit unserer Kunst und unseren vielen Worten am Ende sind. Und dort wird uns Gott dann mehr zuteil werden lassen, als wir in diesem Leben bitten und verstehen können.

Betende Hände halten nichts fest, klammern sich nicht an etwas. Aber sie sind mehr als eine bloße Haltung, und sie werden am Ende reich gefüllt: Sie lassen die Verbindung lebendig werden zu meiner Seele, zu meinem Nächsten, zu Gott. Darin liegt ein großer Trost, und darin liegt eine wunderbare Verheißung.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.