Wenn Sie durch die Innenstadt von Leipzig gehen, sind Sie Ihnen vielleicht aufgefallen – die Stolpersteine. Sie stehen nicht hervor, so dass man tatsächlich durch sie ins Stolpern kommt, nein, sie erfordern vielmehr offene Augen und wache Sinne auf dem Weg. Die Stolpersteine erinnern an jüdische Familien, die in unseren Städten einst ihre Heimat hatten. Menschen, die über Generationen hinweg Nachbarn waren, Kollegen, Bekannte oder Freunde.
Menschen, die auf einmal aus ihrem Leben gerissen wurden, die aus dem Alltag deutscher Städte und Dörfer mit unglaublicher Selbstverständlichkeit und gnadenloser Gründlichkeit „entfernt“ wurden. Menschen: Männer, Frauen, Kinder und Alte, die plötzlich nicht mehr da waren und die in Konzentrationslagern entwürdigt, misshandelt und ermordet wurden.
Stolpersteine – auch 70 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs sollen sie an die Schrecken und Verbrechen im sog. „3. Reich“ erinnern, auch in unseren Tagen hört der Kampf gegen das Vergessen nicht auf. Nie wieder darf so etwas geschehen, schon gar nicht auf deutschem Boden. Nie soll einer ungestraft behaupten dürfen, das sei ja nun lange vorbei und erledigt: Wer solche furchtbaren Irrwege von der Landkarte streicht, der missachtet die Lehren der Geschichte und riskiert früher oder später erneut falsch abzubiegen.
Man kann diese Haltung als eine „Erinnerungskultur“ bezeichnen. Man kann sich darüber ärgern, wenn daraus mitunter eine unangenehm überzogene „Betroffenheitskultur“ erwächst, mit der sich manche Menschen vor allem selbst zelebrieren – an der Sache ändert das aber nichts. April 2002 wurden in Berlin die Namen von 55.696 Bürgern/Opfern verlesen – es dauerte 30 Stunden, jeden einzelnen Namen wenigstens noch einmal auszusprechen.
Jeder Mensch hat einen Namen, findet darin seine Identität, verbindet damit seine eigene Persönlichkeit. Wir geben uns mit unserem Namen zu erkennen, wir lassen uns mit unserem Namen ansprechen, machen damit Verträge und Versprechen erst verbindlich. Hans Küng, der bekannte, freidenkerisch-katholische Theologie-Professor und Initiator der Stiftung Weltethos hat an Universitäten auch in Israel gelehrt. Hans Küng sagt über das jüdische Volk:
„Ein Staat – und doch keiner. Warum nicht? Weil seit dem Babylonischen Exil (586 v. Chr.) ein Großteil und seit dem 2. Jahrhundert nach Christus bis heute der weitaus größere Teil aller Juden außerhalb des Heiligen Landes lebt. Ein Volk – und doch keines. Warum nicht? Weil dieses Volk wie kein anderes eine internationale Größe ist. Zahlreiche Juden fühlen sich politisch und kulturell als Amerikaner, Engländer, Franzosen und auch wieder als Deutsche…
Eine Rasse – und doch keine. Warum nicht? Weil schon seit spätrömischer Zeit Menschen aus allen möglichen Stämmen und Völkern durch Heirat oder Konversion Juden geworden sind. Was also macht die Identität des jüdischen Volkes aus, das in der ganzen Welt verstreut lebt und dabei doch kein Heimweh hat? Wofür steht sein Name, wenn nicht für einen festen geographischen Ort oder für ein bewegtes Kapitel in den Geschichtsbüchern?“
Bewegt war die Geschichte Israel jedenfalls von Anbeginn an: Abraham war ein Nomade, der aus dem Zweistromland in das heutige Palästina zog. Später zog das jüdische Volk von Ägypten nach Kanaan, wo Jahrhunderte später ein Königreich entstand und mit dem Tempel in Jerusalem ein festes religiöses Zentrum geschaffen wurde. Doch erneut kam es zu Zerstörung und Deportation. Der Prophet Jesaja greift in unserem Predigttext die Sehnsucht der Deportierten auf: Nach Sicherheit, nach einem festen Bezugspunkt, nach Gerechtigkeit.
Römische Besatzung und Zerstreuung der Juden in viele Länder, jüdische Ghettos in den mittelalterlichen Städten, Antisemitismus vor und nach der Zeit der Aufklärung und schließlich der Holocaust sprechen leider eine andere Sprache. Wofür steht der Name des jüdischen Volkes? Woher bezieht es seine Identität?
Hans Küng beschreibt die jüdische Gemeinde in Tel Aviv als „offen, problembewusst und nach vorn gerichtet“. Das, was ihrer Glaubensgemeinschaft alles angetan und angehängt wurde, ist nicht aus dem Blick geraten – aber ihre Wurzeln und ihre Sehnsucht waren und sind andere, und sie sind es, welche die Zukunft bestimmen. „Wenn dein Kind dich fragt“ – dann kann ein jüdischer Großvater sicher viel erzählen, fraglos auch viel Bedrückendes. Aber er wird nicht vergessen, zu reden von der Befreiung aus Ägypten, vom Manna in der Wüste, vom gelobten Land, von Gottes Verheißungen und Geboten.
Sehnsucht nach Gott – darin drückt sich nicht nur der Mangel aus, die Erfahrung von Notstand und gottlosem Handeln. Darin liegt auch das tief empfundene und gelebte Bekenntnis, in Gott und der wechselvollen Geschichte mit ihm eine innere Heimat zu haben. Angesprochen zu sein, erwartet zu werden – dass die Reise eines Tages zu einem guten Ende kommt. Darum beschwört Jesaja die Wächter, Gott an seine Versprechen zu erinnern, und er beschwört sein Volk, sich nicht aufzugeben, weil es eine Heimat hat, zu der es wiederkehrt.
Wie ist das mit unseren Geschichten? Heilig Abend, alle Jahre wieder: Ein sentimentales, verlogenes Getue, sagen die einen. Sollen sie reden! Ich schaue lieber und höre und freue mich daran, wie die Botschaft von Jesu Geburt einzelne Menschen berührt. Manche wirken dabei so, als hätten sie nach Jahren unerwartet einen Brief von einem alten, vergessen geglaubten Freund bekommen. Und es sind mehr als die Worte, die uns hineinnehmen in die Botschaft von Gottes Gegenwart in der Welt. Es ist das Familiäre, das darin durchscheint, das Gefühl, nein, die Gewissheit der Zugehörigkeit, der Geborgenheit, der eigenen Identität, die sich mit dem Kind in der Krippe verbindet.
Die Gemeinschaft der Heiligen: Es gibt wohl einiges, was einem bei dieser Stelle im Glaubensbekenntnis in den Sinn kommt. Es gibt wohl einige, die man lieber nicht dabeihätte, und andere, die einem fehlen. Doch mit dem Glauben verbindet uns mehr, als was sich durch Meinungsverschiedenheiten, Eigensinn, Ablehnung und Entfremdung verderben lässt.
Nach der Wahl von Pfarrer Rentzing zum neuen Landesbischof gab es bemerkenswerte Leserbriefe in den Zeitungen: „Wenn so einer Bischof werden kann, dann ist das nicht mehr meine Kirche“ war da zu lesen. Und andere schrieben „Gerade noch rechtzeitig kam diese Wahl, sonst wäre ich ausgetreten.“ Ja, Wohlstand macht mutig und vor allem selbstherrlich. Auch Ehen und Familien werden mitunter wie zwanglose Interessengemeinschaften gelebt, und viele Gemeinschaften definieren sich heute hauptsächlich über die gleiche Gesinnung. Das schafft Monokulturen, und die sind bekanntlich sehr langweilig und lebensfeindlich.
Wofür stehen wir mit unserem Namen als Christen? Ein einig‘ Volk von Brüdern und natürlich Schwestern? Eher nicht. Aber Verbundene vor Gott, Gebundene an sein Wort, und allesamt gefunden von seiner Liebe, ohne die jeder von uns verloren gehen würde. Stolpersteine – eine gute Sache, die Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte wachzuhalten. Stolpersteine erinnern uns dabei nicht zuletzt auch an uns selbst, wo wir kurzsichtig Wege verbauen, anstatt auf das große Ganze zu achten und auf unsere Bestimmung.
Um Stolpersteine wahrzunehmen, braucht es wie in der Leipziger Innenstadt offene Augen und wache Sinne. Dann bleiben wir aber auf gutem Weg – als Brüder und Schwester des jüdischen Volkes, als Christen und als Mitglieder in unseren Gemeinden. Wir haben eine Heimat, auch wenn wir sie uns manchmal anders wünschen mögen. Wir haben eine Sehnsucht und wir haben Gottes Wort, dass er uns zu seiner Herrlichkeit führt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.