In der Musik gibt es das Stilmittel der Variation: Da hat man eine schöne Melodie, sie geht ins Ohr, trifft ins Herz. Und eine besonders gut komponierte Melodie kann das sogar auf ganz unterschiedliche Weise: Mal mitreißend und bewegend, mal sanft und beruhigend oder spielerisch-heiter.
Die Grundmelodie bleibt dabei immer erkennbar, aber jede Variation setzt eigene Akzente in Tempo und Rhythmus, verbindet sich mit weiteren Tönen und Akkorden, unterschiedliche Abfolge und Klangfarben verändern ihre Wahrnehmung und Wirkung.
Unser heutiger Predigttext ist ebenfalls eine solche Variation, auch er verbindet Vertrautes mit Besonderem und bringt so biblische Grundaussagen auf seine Weise neu zum Klingen. Freilich, um das zu erkennen, muss man ein geübter Hörer sein: Sonst kommt es leicht zu Missverständnissen – und wo man nicht versteht, macht man sich gern lustig, wenn etwa Wasser zu Wein verwandelt wird oder wenn wie hier Jesus übers Wasser geht. Lassen Sie uns daher genauer hinhören!
Eines haben Sie alle sicher sofort wiedererkannt: Das „Fürchtet Euch nicht“! Ein fleißiger Mensch (also nicht ich) hat einmal nachgezählt: Ganze 124mal begegnet uns diese Aussage in der Bibel, und ja, ganz offensichtlich ist dies bereits ein Teil jener Grundmelodie – leicht aus der Fassung zu bringende Menschen, vor allem, wenn Gottes Wort an sie gerichtet wird.
Die einen sind verstockt, wie der Pharao, die Pharisäer, nicht selten auch die missgünstigen Jünger, die anderen überkommt Furcht und Schrecken. Göttliche Botschaft, so scheint es, hat es schwer mit uns – da prallt etwas aufeinander, lässt sich nicht so einfach hinnehmen und in den Alltag einbauen. Es fordert heraus und deckt auf, wer wir sind, wo wir stehen. Es mag schön sein, wenn man sich näher damit beschäftigt, aber leicht und gefällig ist es nicht!
Die Furcht wohnt meistens dort, wo es dunkel ist, wo wir unsicher sind – in der Nacht. Auch sie begegnet viele Male in der Bibel, und das nicht nur als Zeitangabe wie hier, wo die Jünger abends ins Boot steigen und Jesus dann „zur 4. Nachtwache“, also erst kurz vor der Morgendämmerung wieder zu ihnen kommt. In der Nacht sind Geräusche, die wir nicht einordnen können und die bedrohlich wirken. Wir tasten unsicher, sehen nicht genau, wohin wir gehen. „Das Volk, das im Finstern wandelt“ sieht schnell Gespenster, wo keine sind, und verliert sich allzu leicht auf dem Weg.
Zum Dreiklang der Furcht gehört schließlich noch der Sturm: Die entfesselten Elemente Wind und Wasser machen die Jünger im Boot zu einem Spielball der Gewalten, unberechenbar, kaum zu beherrschen. Wenn die Wellen über uns zusammenschlagen, merken wir plötzlich, wie klein und schwach wir doch sind! Unsere Kräfte sind da schnell erschöpft, das eigene Überleben kaum mehr in unserer Hand.
Im Eingangspsalm 107 wird dies ja eindrücklich beschrieben, und in den Evangelien bei Markus, Lukas wie schon zuvor bei Matthäus finden wir ebenfalls eine Sturmerzählung. Dort ist Jesus als Erster ins Boot gestiegen und schlief, als die Jünger mit ihm hinausfuhren. Er schlief weiter, als der Sturm aufkam, und als die Jünger um ihr Leben bangten. Sie mussten ihn erst wecken – und mussten sich gefallen lassen, für ihren Kleinglauben getadelt zu werden.
Und er gebot dem Wind und der See, und es entstand eine große Stille: Zeit zum Innehalten, Zeit zum Nachdenken, sich sammeln. Furchtsame Kleingläubige: So etwas zu hören, tut weh, auch wenn man gerade nochmal mit dem Leben davongekommen und dankbar sein sollte. Aber Überleben – ist das nicht zu wenig? Gerettet worden zu sein – reicht das schon, um glücklich zu sein, sich selbst wieder zu spüren, als Teil eines großen, heilen Ganzen zu sehen?
Matthäus greift darum diese Situation ein zweites Mal auf, wir hören nun die Variation eines bekannten Stücks. Was ist anders? Diesmal sind die Jünger allein unterwegs. Jesus hat sie losgeschickt, um für sich zu sein und zu beten. Kurz zuvor hatte es die Speisung der 5.000 gegeben – ein großartiges Wunder, und kurz davor wird von der Enthauptung Johannes des Täufers berichtet: Was für ein harter Kontrast!
Das Kind, das im Leibe seiner Mutter Elisabeth vor Freude hüpfte, als Maria, schwanger mit Jesus zu Besuch kam. Der Prediger in der Wüste, der Prophet des Höchsten, der Jesus dann im Jordan taufte – er hat seine Passion, seine Leidensgeschichte vollendet. Mit ihr erscheint auch Jesu Passion am Horizont. Jesu stille Abendstunde, allein auf dem Berg – sie wirkt wie eine Vorahnung vom Garten in Gethsemane am Gründonnerstag.
Diesmal schlafen die Jünger allerdings nicht, im Gegenteil: Wohl schon seit Stunden kämpfen sie im Sturm mit den Wellen, ihre Nerven liegen blank – und dann jenes unerwartete, eigenartige Wiedersehen mit Jesus, der so wie nie zuvor und nie danach über das Wasser zu ihnen kommt. Ein Gespenst, so dachten die Jünger, was sonst? Wo die bekannten Gesetze außer Kraft treten, fehlen uns passende Begriffe. Sie erschraken aber und fürchteten sich und meinten, sie sähen einen Geist, heißt es bei Lukas, als der Auferstandene den Jüngern begegnet.
Petrus hat sich von seinem Schreck offenbar schnell erholt. Er will mehr, als sich zu fürchten, er will Jesus nachfolgen, mehr noch: Tun, was er tut! Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Befiehl mir deine Wege – auch eine interessante Variation! Petrus, immer ist er es, der nach vorne prescht und dann über seine eigene Kühnheit stolpert:
Petrus, dem von Jesus verheißen wurde, er sei der Fels, auf den die Kirche Christi gebaut werde. Petrus, den Jesus kurz darauf zurückweist: Satan, weiche! Du bist mir ein Ärgernis, denn du meinst nicht, was göttlich ist, sondern was menschlich ist. Petrus, der seinem Herrn Jesus überallhin nachfolgen will, und ihn dann dreimal verleugnet. Petrus, der größte unter den Kleingläubigen: Es ist nicht sein Mut, der die anderen Jünger überzeugt. Es ist nicht sein Zeugnis, das den Glauben hervorruft.
Du bist wahrhaftig Gottes Sohn – dieses Bekenntnis hat tiefere Wurzeln. Mut genügt nicht, ebenso wenig blinder Eifer. Als Petrus aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn.
Anrufung und Errettung: Damit haben wir dann wohl wirklich alle Elemente unserer Melodie beisammen. Eine schöne Melodie, sie geht ins Ohr, sie trifft ins Herz. Jede ihrer Variationen setzt eigene Akzente, verändert ihre Wahrnehmung und Wirkung!
Das Boot auf rauer See. Die schlaflosen Nächte. Das Toben der Gewalten, die große Stille. Wir alle kennen diese Momente, manchmal kommen sie uns schier endlos vor. Dann fragen wir uns: Gott, wo bist Du? Warum hast du mich verlassen? Jeden holt diese Frage auf eine ganz eigene Weise ein, jeder ringt auf seine Weise mit der Antwort. Unser Bekenntnis ist am Ende sehr einfach, kurz und knapp: Ich glaube – hilf meinem Unglauben!
Bin ich wie Petrus, der auf ein Wort aus dem schwankenden Boot steigt und das Unmögliche wagt? Bin ich wie die Jünger, die sich an den Bootsrand klammern und erschrocken zusehen? Fürchtet euch nicht, ich bin’s, seid getrost: Die rettenden Worte Jesu, sie sind an alle gerichtet, auch an sie und mich. Vor ihnen verstummt, was uns bedroht und ängstigt, auch nach der längsten Nacht. In ihnen zeigt sich wahrhaftig Gottes Sohn, fremd und wunderbar.
„Das Meer ist so groß, und so klein mein Boot“ – wir sitzen alle in diesem einen Boot. Alles schwankt, unter uns die große Tiefe, nur ausgestreckte Hände geben Halt, unsere Hände – und die unseres Herrn. In ihm, Jesus Christus, sind wir verbunden, durch ihn lernen wir wieder Vertrauen, mit ihm finden wir sicher durch alle Stürme nach Hause.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.