Stimmbruch

„Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, Friede, und Ehre in der Höhe“ – das sind für gewöhnlich die Worte von Engeln: Als himmlische Boten, von Gott gesandt, verkünden sie so z.B. die Geburt Jesu. Wir hören also weihnachtliche Botschaft in österlicher Freudenzeit, hier allerdings aus dem Mund der Jünger und der ganzen Menge, die Jesus auf dem Weg nach Jerusalem gefolgt war.

Die Jünger – für gewöhnlich gleichen sie weder Engeln noch Heiligen. Viel öfter begegnen sie uns verwundert, verärgert, sie murren oder klagen. Doch hier erheben sich ihre Stimmen auf einmal laut zum Lobe Gottes: Vor dem Einzug in Jerusalem bricht freudige Erwartung aus ihnen heraus: Bald, sehr bald schon wird ihr Herr im Zentrum der Macht sein und alles neu machen, alles Elend besiegen, alle Hoffnungen erfüllen!

Engelsworte sind mächtig und nicht leicht zum Schweigen zu bringen. Wir Christen mögen vielleicht weniger werden hier in Europa – doch Kirchen und Glocken sprechen weiterhin eine deutliche Sprache, sind Botschafter des Glaubens. Sie sprechen stellvertretend auch für uns, wenn unsere Stimmen leiser werden und kaum noch Gehör finden hierzulande.

Dieser Text aus dem Lukasevangelium war eigentlich schon vor zwei Jahren als Predigttext an der Reihe – Mai 2021. Es war das dritte Jahr der Pandemie, verbunden mit Einschränkungen auch für die Feier von Gottesdiensten. Kein Gesang, keine Bläserchöre – zu groß war das Infektionsrisiko, so hatten damals die Landesregierungen gemeinsam mit den Landeskirchen die Situation beurteilt und entsprechende Beschlüsse gefasst.

Am Sonntag Kantate wurde somit auch 2021 wenig gesungen, es blieb wie in beiden Jahren zuvor eher beim Hören, und viele blieben auch gleich daheim in den eigenen vier Wänden. Engelsworte und Friedensbotschaften kamen seinerzeit nicht allen über die Lippen, zu hören bekam man auch viel Unverständnis und Zorn. Die bislang selbstverständlich erscheinende Solidarität mit den Schwachen wurde immer mehr infrage gestellt, viele Verantwortliche in Politik, Wissenschaft und Kirche wurden verleumdet und verletzt.

Ja, die Einschränkungen waren schmerzhaft und bitter – doch die Reaktionen darauf konnten einen erst recht das Fürchten lehren. Unsere Gesellschaft und auch unsere Kirche muss jetzt wieder lernen, gemeinschaftlich zu denken und zu handeln – und das wird schwerfallen und sicher noch einige Zeit dauern.

Wer steht wirklich treu im Glauben, wer folgt tatsächlich den Wegen unseres Herrn? Und wer vermag das überhaupt mit welcher Vollmacht zu beurteilen? Gottlob gibt es ja die Pharisäer, auf die man hier zeigen kann:

Ausgerechnet sie, die Schriftgelehrten begegnen uns im Text als Spielverderber, als diejenigen, die den Eifer der Menge dämpfen wollen. Der laute Jubel kommt ihnen verdächtig vor, der Überschwang entzieht sich jeder Kontrolle, und so sprachen einige zu Jesus: „Meister, weise doch deine Jünger zurecht! Er antwortete und sprach: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“

Und so ging das Rufen auch weiter, als Jesus durch das Tor von Jerusalem ritt: „Hosianna, gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“, wieder, und immer wieder. Dann wurde es eine Weile ruhiger, bevor sich die Stimmen aufs Neue erhoben, nun aber ganz neue Töne anschlugen: „Kreuziget ihn!“, wieder, und immer wieder.

Dem Lob folgte die Lästerung, der Friede wich dem Frevel, die Ehre dem Eigensinn. Dafür braucht es nie viel Zeit, so etwas geht immer erstaunlich schnell, und die Verurteilung wird meist in großer Gründlichkeit vollzogen.

Begeisterung, die in Enttäuschung umschlägt, ist kaum zu bremsen: Als verheißener König ging Jesus einen Weg, der nur schwer nachzuvollziehen war. Er ging die meiste Zeit an der Seite der Schwachen, der Kranken, der Ausgestoßenen. Er sprach mit Sündern und legte sich an mit denen, welche die Väter und Propheten in traditioneller Weise deuteten.

Er wählte den Weg eines Friedens und einer Gerechtigkeit, wie ihn die Welt nicht kannte und begreifen konnte. Sein Kreuz war die Konsequenz, seine Auferstehung der Anfang zu etwas ganz Neuem. Kein Aufschrei war zu hören, damals auf Golgatha. Ein Staunen vielleicht, hier und da flossen Tränen. Ein ehrfürchtiges Bekenntnis kam über die Lippen eines römischen Hauptmanns. Der Rest ist Schweigen.

Drei Tage Grabesruhe, dann vereinzelte Worte, anfangs kaum mehr als Gerüchte: „Er ist wahrhaftig auferstanden!“ Noch einmal, fast ungläubig, sprechen einfache Menschen Engelsworte nach. Und weil Worte oft so schwerfallen, verleiht der Gesang ihnen Flügel: Das Wunderbare findet darin Form und Ausdruck, wie in den Psalmen und vielen anderen Liedern.

Wo gesungen wird, tritt zu den Worten eine Melodie, die trägt, die den Takt vorgibt und auf Kurs hält. Ein Lied kann ich mitsingen, ohne erst meine Gedanken sortieren oder mir kluge Formulierungen überlegen zu müssen. Vielmehr ist Gleichklang gefragt, sonst wird es schief.

Uns christlichen Gemeinden ist das vertraut. Und auch wenn wir mal nicht einstimmen können, weil uns die Stimme stockt oder eine Last auf der Seele liegt, so wissen und spüren wir: Es sind auch unsere Worte, die da gesungen werden. Ihre Botschaft, ob von Engeln oder Menschen, sie gilt auch uns und gilt auch dann, wenn wir mal kein Ohr dafür haben – wie bei Saul, dem David in dunklen Stunden auf der Harfe spielte, „und es ward besser mit ihm“.

Saul hatte alles erreicht, lebte in sicherem Wohlstand – aber da war auch die Angst um das Erreichte, Angst vor Veränderung und Verlust. Jemand, der Angst hat, macht oft auch anderen Angst, und die Schatten werden länger. Musik vermag da mehr als Worte. Sie tröstet und trägt, wenn es uns die Sprache verschlägt. Sie rührt an die Seele, schafft eine Vertrautheit über das hinaus, was vor Augen steht.

Wie die Jünger, wie die Menge vor Jerusalem gleichen auch wir Christen weder Engeln noch Heiligen. Verwunderung, Ärger, Unmut und Klage findet sich in unseren Äußerungen weit öfter als Lob oder Freudengesang. „Nicht gemeckert ist genug gelobt“, wir kennen den Spruch! Aber das Lob, das Singen, das Jubeln wie das Beten ist ja nicht nur etwas, das wir für uns selbst tun:

Wir treten damit gleichsam einen Schritt nach außen, heraus aus aller Selbstbezogenheit, kleinlichen Wünsche und Sorgen. Loben, Singen, Jubeln und Beten hat darum immer auch etwas Befreiendes – für uns und für all die, die mit uns sind.

Es befreit uns und andere von quälenden Gedanken, vom ewigen Hunger nach mehr, von der lähmenden Gewissheit der eigenen Grenzen. Da ist mehr, was wir hoffen dürfen. Engelsworte sind uns in den Mund gelegt, dass wir sie nicht vergessen und uns an ihnen aufrichten, dass Gott selbst es ist, der durch sie zu uns spricht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft…