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Stallgeruch

Die lange Zeit der Trinitatis-Sonntage im Sommer wird auch als „festlose Zeit“ bezeichnet. Urlaubsbedingt ist nicht ganz so viel los wie sonst im Kirchenjahr, und doch schätze ich diese Zeit ganz besonders: Sie schafft nämlich Raum für Predigtthemen, die sonst zu kurz kommen, sie ist frei von bestimmten Erwartungen, wie sie mit Festtagen ja meistens verbunden sind.

Unser Predigttext heute aus dem Philipperbrief scheint allerdings auf den ersten Blick genau das anzusprechen, was ich salopp als „christliches Standardprogramm“ bezeichnen würde. Uns begegnen in wenigen Zeilen viele altvertraute Schlagworte: Dreimal ist darin von Liebe die Rede, ebenso von Trost, Barmherzigkeit, Freude und Demut. Vor allem aber das Thema der geistigen Gemeinschaft klingt an:

Paulus ermahnt uns mit der Gemeinde in Philippi, eines Sinnes zu sein, Eintracht zu üben, persönlichen Ehrgeiz hintan zu stellen und einander zu dienen. Wer will da widersprechen? Aber um ehrlich zu sein, mir geht bei diesen Worten nicht gleich das Herz auf. Ich gehe sogar etwas auf innere Distanz, weil ich da auch eine moralische Vereinnahmung heraushöre:

Ich erwähnt eingangs meine Reisefreudigkeit, die ja notwendig eine gewisse Offenheit für andere Bräuche und andere Sitten einschließt wie auch den Wunsch, anderen Menschen näher zu kommen und Gemeinschaft zu erfahren. Aber das sind Begegnungen, ist eine Form von Gemeinschaft, die ich suchen kann, wenn mir danach ist: Freiwillig, selbstbestimmt.

Zwangsgemeinschaften habe ich dagegen noch nie leiden können. Die „gelernten DDR-Bürger“ unter uns haben so etwas staatlich verordnet bekommen, aber auch im sog. „freien Westen“ gab es Denkverbote und Meinungsmonopole, denen man sich besser unterordnete, wenn man „dazugehören“ wollte. Da hörte ich schnell Vorwürfe wie „als Christ kannst Du doch nicht zur Armee gehen, da musst Du dich der Friedens- und Umweltbewegung anschließen, musst so und nicht anders über diese und jene Dinge denken“ – Nein danke!

Im Theologiestudium fand das hier und da Fortsetzungen: Im Studienhaus, an der Uni, in Gemeindekreisen wurde jenem geheimnisvollen „Stallgeruch“ nachgespürt, der darüber entschied, ob jemand der Gemeinschaft würdig war oder nicht. Wenn Sie jedoch denken: Aha, der Herr Weyer macht Prädikantendienste nur, um nicht in der Gemeinde zu sitzen! dann irren Sie sich. Ich empfinde das Gemeindeleben als etwas Gutes, Mutmachendes, als einen Reichtum, von dem ich als Christ praktisch unbegrenzt zehren kann – Gott sei Dank.

Ich als Christ – das bedeutet aber auch: Mein wankelmütiges Herz, mein irrender Verstand, mein Schwanken zwischen Hoffen und Bangen, Stolz und Verzweiflung, all das – vor Gott, dem Nahen und doch Unbegreiflichen. Beileibe begreife ich in dieser meiner Situation als Christ nicht alles, was mit mir und um mich herum geschieht.

Keinesfalls gibt mir mein Glaube für alles eine griffige Erklärung, beantwortet mir all meine Lebensfragen oder lässt mich meine Mitmenschen automatisch besser verstehen. Da ist nur ein Halten an das Wort und ein Vertrauen auf Gott, das in guten Momenten Ausdruck findet im Beten und Singen, im Gewahr werden großer Freiheit und tröstender Geborgenheit.

Braucht es denn zwingend mehr als dieses Menschlein, das eine gute Botschaft im Herzen trägt und zu Gott schaut? „Wenn es ans Sterben geht“, schrieb immerhin kein Geringerer als Martin Luther seiner lieben Käthe, „dann kann ich nicht bei dir sein, und du nicht bei mir.“ Ernüchternd unromantisch ist dieser Blick des Reformators auf die ehelichen Bande, geradezu erschreckend kalt die da geschilderte Einsamkeit des Menschen in der Stunde des Todes!

Wir Christen, ob als Einzelne oder in der der Gemeinschaft der Gemeinde, sehen uns ja auch der Wahrheit verpflichtet: Die Individualität und ganz eigene, facettenreiche Persönlichkeit von Menschen gehören zu dieser Wahrheit. Vor inneren Widersprüchen, Ecken und Kanten, Grenzen des Geistes und der Liebe wie vor tief empfundener Angst und Verlorenheit kann gerade der christliche Glaube nicht die Augen verschließen.

Sind die Worte aus dem Philipperbrief daher ins Leere gesprochen? Wo jeder von uns eine eigene Welt mit sich herumträgt und vor allem mit sich selbst beschäftigt ist, wie kann da Gemeinschaft gelingen? Wo schon Eltern und Kinder, Geschwister, Kollegen untereinander oft genug Probleme haben, Einigkeit und Harmonie zu entwickeln, wie kann da Gemeinde und Kirche als große Einheit funktionieren?

Im Grunde nur, wenn sie sich in ihrer inneren Vielgestaltigkeit begreift und diesen bunten Haufen als das akzeptiert, was er im Grunde bedeutet. Entscheidend ist nämlich nicht, wie konservativ, evangelikal, liberal oder sonst wie die Gemeinde zusammengesetzt ist. So etwas prägt zwar den allgemeinen Stil vielleicht auch der Gottesdienste, aber entscheidend ist die gemeinsame Ausrichtung und Verantwortung vor Gott – und sei es von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus.

Wenn wir das Tragende und Verbindende in der Mitte von Menschengruppen und –kreisen suchen, werden wir nicht fündig. Eine Gemeinde kann keine eingeschworene Gesinnungsgemeinschaft, kein elitärer Zirkel, keine geschlossene Gesellschaft sein, wenn sie der ganzen Dimension des Lebens und damit Gottes Ruf an uns gerecht werden will.

Eine funktionierende Gemeinde beschäftigt sich nicht mit sich selbst, sondern ist ein gemeinsamer Übungsraum des Glaubens. Dort regiert einmal nicht unser vielbeschäftigter Kleingeist, sondern dort, im gemeinsamen Reden und Hören in einem besonderen Raum spiegelt sich im Geist Christi unser gemeinsames Vertrauen auf Gott:

Ein Vertrauen, das verbindet und uns aus unserem ja auch ermüdenden Einzelkämpferdasein herausholt. Erst in diesem Geist Christi und im Verzicht auf unsere geistige Hoheit entwickeln wir echte Nähe zu unserem Nächsten, erst darin lernen wir sein Ringen um Wahrheit besser verstehen, erst darin erkennen wir unsere Begrenztheit und gemeinsame Berufung.

Wir sind gerufen zum Gebet, in den Gottesdienst, zum Glauben im Alltag. Dort wird die gemeinsame Blickrichtung deutlich: Auf Christus, auf das Ziel unseres Lebens, auf seinen Weg durch die Zeit und die Spuren seiner Liebe. Bis zum Kreuz ist er gegangen und hat uns allen Grund geschenkt, seine Liebe weiterzugeben, nicht gefangen zu bleiben im ewigen Kreislauf von Schuld und Strafe.

Wir müssen also keine falschen Töne ertragen oder anstimmen, nur weil es andere tun. Wir dürfen aufblicken zu Gott, dürfen unseren Nächsten ansehen ohne Furcht oder Scheu, wir können sogar in den Spiegel schauen und befreit lachen, weil wir uns bei allen Schrullen und Schrammen geliebt wissen dürfen von dem, der unseren Weg bereitet hat und mit uns geht durch alle Höhen und Tiefen.

„Seid eines Sinnes und Geistes“ – blickt gemeinsam in diese eine Richtung, die uns Gott gewiesen hat. Anderen so befreit ein Gegenüber zu sein,  auch unangenehme Dinge offen anzusprechen und dabei selbst ansprechbar und kritikfähig zu sein – das ist dabei ein Anspruch, an dem alle auch als Gemeinde nur wachsen können.

Unser gemeinsamer Blick auf Christus führt zusammen und hält zusammen, auch wenn das Band mal straffer und mal lockerer sein mag: Es verbindet uns im Glauben und führt uns gemeinsam zu ihm.

 Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.