Schwingungen

Zu einem besonderen Anlass schenkt man gerne etwas Schönes. Glückwünsche drücken Zuversicht aus, in Grußkarten sollen wohlgewählte Worte eine positive Grundstimmung unterstreichen. Die Sorgen und Dämpfer im Leben kommen bekanntlich von ganz allein!

Als heutigen Predigttext habe ich den Wochenpsalm gewählt: Psalm 139, den wir eingangs miteinander gesprochen haben. Er passt gut, weil es auch in ihm darum geht, welche Wege wir im Leben nehmen, und wie Gott darin wirkt und wahrnehmbar ist. Aus gutem Grund werden einzelne Sätze aus diesem wunderbar poetischen Psalm gerne als Taufspruch gewählt, und vielleicht fühlen auch Sie sich an der ein oder anderen Stelle persönlich angesprochen:

(Link zur Bibelstelle s. unten)

Meine Frau und ich haben heute Hochzeitstag, wir sind über 20 Jahre verheiratet: Hin und wieder kommt es auch heute noch vor, dass wir uns übereinander wundern, aber weitaus häufiger gibt es da so eine umfassende, fast schon unheimliche Vertrautheit. Manchmal braucht es gar keine Worte mehr, da hat meine Frau mich oder ich sie längst verstanden und weiß bereits, was anliegt. Und manchmal dient diese gute Vertrautheit auch als Entschuldigung:

„Du kennst mich doch“ – aus diesem Satz spricht die leicht beschämte, reumütige Einsicht in typische Missgeschicke: Da habe ich mal wieder die Beherrschung verloren, da habe ich nicht nachgedacht, bin in dieselbe Falle getappt wie zuvor oder habe mich mal wieder gründlich verschätzt.

„Du kennst mich doch, sieh es mir bitte nach“ – und eigentlich braucht es auch da keine Antwort mehr, weiß ich im Grunde doch selbst zu gut Bescheid, wie ich manchmal so „drauf“ bin, Gott sei’s geklagt! Der Dichter Rainer Maria Rilke beschreibt diese eigenartige Verbundenheit von zwei Menschen in einem ebenso eigenartigen Liebeslied:

Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?
Wie soll ich sie hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas Verlorenem
im Dunkel unterbringen an einer fremden stillen Stelle,
die nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich, nimmt uns zusammen
wie ein Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

Ein süßes Lied, jedoch genau wie unser Psalm mit unüberhörbar dunklen Untertönen: Ich will mein Leben leben und mag es nicht, wenn man mich einengt. Ich will auch mal für mich sein, z.B. jetzt im Urlaub, ohne dass mir ständig einer im Nacken sitzt. Ich will ich selbst sein, nicht immer einfach nur Ehepartner, Geschöpf Gottes, Teil irgendeines Plans.

Wer mich kennt, der weiß das – und ich finde, mein Wunsch ist berechtigt: Verantwortung, Gewissen, Glaube und Liebe, all das setzt genau solch eine Selbständigkeit voraus, eine eigene innere Haltung, in die kein anderer reinfunkt: Nur so bin ich Gott und meinem Nächsten ein echtes Gegenüber, und werde nicht reduziert auf ein bloßes Anhängsel.

Rilke möchte seine Seele in Distanz zu seiner Geliebten bringen, ihr ein echtes Gegenüber bleiben und darum sein Innerstes irgendwo sicher wegschließen, wo niemand hinkommt. Unser Psalmbeter holt noch weiter aus, seine Gedankenreise führt ihn in den Himmel und zu den Toten, ans äußerste Meer und in die Finsternis. Doch wohin er sich wendet: Gott ist auch da mit seinem Geist bei ihm, sieht ihn an, hält die Hände über ihn – und weckt damit durchaus gemischte Gefühle: Der Dankbarkeit, ja, aber Kopfschütteln und eine gewisse Ratlosigkeit klingen für mich ebenfalls deutlich hindurch.

Wenn man es spitz formulieren will, scheint Gott hier „Hase und Igel“ mit uns zu spielen: Wie wir uns auch mühen, uns den Kopf zerbrechen, schweren Herzens um Lösungen ringen – für Gott nimmt das scheinbar alles seinen vorherbestimmten Lauf. Das Drehbuch unseres Lebens ist schon fertig geschrieben, ohne dass wir den Inhalt, all die Wendungen darin oder gar das Ende kennen. So ein Gott, der alles übersieht und alles durchschaut, hat auch etwas Beängstigendes, wenn ich ihn in meine Berechnungen mit einbeziehe.

Zumal, mit so einem Bild des alles überwachenden Gottes lassen sich Kinder, Gläubige und fromme Bürger gut in Schach halten – so jedenfalls dachte man zu früheren Zeiten: Auf diese Weise wurde ehrliche Gottesfurcht verwandelt zu einer lähmenden Lebensangst, und damit der Boden des Evangeliums, der Ausgangspunkt der guten Botschaft vollends verlassen.

Es stimmt natürlich: Außerhalb der Gotteswirklichkeit kann kein Mensch leben. Ich kann Gott leugnen, ihn ignorieren oder totschweigen – aber am Ende fällt das immer nur auf mich zurück. Am Ende bin ich noch immer vor ihn gestellt – ihn, den Allgegenwärtigen, Allwissenden, Allmächtigen. Das ist ein Bekenntnis voll Ambivalenz, ein Credo ohne vorschnelles Halleluja. Es ist eine Einsicht von so großer Tragweite, dass sie uns den Atem raubt – und die uns zugleich hinausruft aus unseren eigenen Selbstfindungsversuchen wie auch aus den Rollen, die uns andere auferlegen wollen.

Gott sieht mich an, damit ich ihn sehen lerne. Damit ich Schritt für Schritt begreife, dass ich von ihm geschaffen bin, nach seinem Ebenbild und doch einzigartig. Gott zeigt mir seine Liebe, nicht indem er mich wie an einer Hundeleine immer wieder zu sich zurückzerrt, sondern indem er mich durch die Berge und Täler des Lebens, in meinen widerstreitenden Gefühlen, meinen hochfliegenden Plänen und schmerzvollen Niederlagen begleitet und nur eingreift, wenn er es für gut und richtig hält. Wir bekennen den „lebendigen“ Gott!

Mit Berechnung komme ich da nicht weiter. Gott bleibt für mich ein Wunder, unverfügbar, unbegreiflich, schlicht „zu hoch“, um ihn in meine Vorstellungswelt zu pressen, als könne ich ihn an mich binden wie eine Lebensweisheit oder ein moralisches Prinzip. Damit muss ich klarkommen, denn alles andere wäre letztlich doch wieder nur eigene Allmachtsphantasie und Überheblichkeit, ein kalter, in sich geschlossener, in sich gefangener Glaube.

Und vielleicht müssen wir gar nicht so hoch hinaus, um das zu verstehen: Ich bin mir sicher, dass meine Frau und ich uns bei allen eingespielten Verhaltensweisen und Alltagsregeln auch zur goldenen Hochzeit noch überraschen können. Ich weiß im Rückblick, wie ich selbst auf neue Wege geführt wurde, wie meine Lebensreise mich an ungeahnte Ziele brachte. Es geht darum, den Zugängen auf die Spur zu kommen, die uns im Laufe des Lebens zum Glauben geöffnet wurden. So viel Fremdes und Vertrautes, Unverständliches und Wunderbares spiegelt sich darin wider!

Nicht weniger als Gottes ganze Schöpfung und Verheißung gilt es wahrzunehmen. Darauf müssen wir uns als Christen einlassen. Unser Leben geht nicht auf in dem, was wir sehen oder haben oder können. Da ist eine Kraft, die mehr vermag als wir selbst, eine Liebe, die uns zugewandt ist, auch wo wir es nicht vermuten oder verstehen.

Vertrauen öffnet hier einen Weg, auf dem wir uns von Liebe, Dankbarkeit und Ehrfurcht leiten lassen können. Mancher Umweg und manche Sackgasse bleiben uns so womöglich erspart, und wenn nicht: So ist Gott ganz gewiss auch da.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.