Was fällt ins Gewicht? Nach den Weihnachtsfeiertagen lässt sich diese Frage leicht beantworten, wenn die Keksteller geplündert sind und die viele Schokolade unübersehbar Bauch und Hüfte formt. Aber was ist mit unserem inneren
Befinden?
„Ins Gewicht fallen“, das kann da eine doppelte Bedeutung haben: Wenn etwas auf unserer Seele lastet, uns bedrückt und schwer zu tragen ist, dann werden wir schwermütig. Der Blick ist gesenkt, wir gehen gebeugt. Es bedarf keiner großen Menschenkenntnis, um jemandem das anzusehen: Den Menschen auf den Friedhöfen, die um Verstorbene trauern. Den Menschen, denen die Perspektive, die Aussicht auf eine gute Zukunft fehlt. Denen, die mit sich und ihrer Umwelt nicht mehr klarkommen, und denen, die Scham oder Schuld empfinden.
Ins Gewicht fällt aber auch all das, was wichtig ist, was Wert hat und woran Dinge, Menschen, Entscheidungen und Handlungen bemessen werden. Schon in der alten ägyptischen Mythologie gibt es Darstellungen, wo im Jenseits die Seele gewogen und ausgehend vom Ergebnis ein Gerichtsurteil gefällt wird. Mit solchen Vorstellungen ist in der Geschichte leider oft Unheil gestiftet worden: Angst wurde geschürt, wo doch Hoffnung sich entfalten sollte.
Nun, mit der Hölle zu drohen, das funktioniert heute kaum noch. Mit dem Himmel zu locken gelingt aber auch nur selten: Den wünschen sich viele Menschen nicht erst dermaleinst als Ziel ihrer Sehnsucht, sondern schon hier und jetzt, ganz unmittelbar. Zum Greifen nahe muss er sein, sichtbar werden in Wohlstand, Sicherheit, Glück und Erfolg.
Es ist die Grausamkeit der solchermaßen Beglückten, wenn sie ihren himmlisch-leichten Zustand zum Gradmesser für alle Menschen machen. Wer schwere Wege zu gehen hat, wer strauchelt, stolpert oder stockt, der wird jenen Leichtfüßigen leicht fremd – und sieht sich schnell ausgeschlossen.
Paulus stellt dieser traurigen Form menschlicher Heilsvorstellung die christliche Botschaft entgegen. Zwanghaft gute Laune ist für ihn kein Merkmal der Kinder Gottes, denn die sind frei, sie dürfen freimütig dazu stehen, was sie im Innersten bewegt – Lachen oder Weinen, Danken oder Klagen. Und wenn es weder zu dem einen noch zum anderen reicht, wenn schlicht die Worte fehlen, ja, dann darf es auch ein Seufzen sein.
Am Sterbebett und an den Gräbern ist das für die Umstehenden manchmal die einzige verbindende Ausdrucksform: „Ach ja…“ Im Umgang mit der Endlichkeit, da ist ein Christ dann doch wieder gefragt, dann darf der Pfarrer tröstende Worte von Hoffnung, Gnade und Errettung sprechen. Der Dichter Rilke nannte es „ein Wissen, von jener Wirklichkeit sich nieder senkend, so dass wir eine Weile hingerissen das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.“
Dieses „für eine Weile hingerissene“ Seufzen findet aber nicht nur keine Worte, es hat auch keine Richtung, keine Vision. Schicksalsergeben findet dieses Seufzen Raum in der heute so verbreiteten Betroffenheitskultur, die so gar nichts gemein hat mit dem Horizont christlicher Hoffnung, wie Paulus ihn beschreibt. Christliche Hoffnung geht über die eigenen Grenzen hinaus, sie sucht Halt in Gott, sie sucht Trost in etwas, das sie nur ahnen, glauben, aber nicht sehen kann, das sie aber den eigenen Zweifeln zum Trotz zulässt und dem sie vertraut.
Das ist nun weiß Gott kein billiger Trost, nach dem Motto „ihr Christen habt es ja leichter“. Das ist vielmehr der schwerste Dienst an Gott, und zugleich sein größtes Geschenk an uns. Ein Geschenk zudem, das auch andere Anteil nehmen lässt: Christliche Hoffnung erweitert den Raum der eigenen Wirklichkeit wie auch der Wahrnehmung. Da kommen auch andere in den Blick: Der Nächste, der meine Hoffnung, mein Beten und meinen Glauben teilt. Der Nächste, dem um Trost bange oder der von allen guten Geistern verlassen ist. Christliche Hoffnung verbindet mich mit diesem wie mit jenem und lässt mich nicht allein mit mir selbst. Sie macht mich zu einem Kind Gottes, das viele Geschwister kennt.
Zum Volkstrauertag wie auch zum Ewigkeitssonntag wagen sich viele Menschen an die Gräber auf den Friedhöfen. Manche stehen einzeln, in Gedanken versunken. Manche schauen scheu herüber zu den Nachbargräbern, zu den anderen Menschen, mit denen sie bei aller Fremdheit doch Schmerz und Verlust teilen. Manche kommen mit Freunden und Familie, Kinder machen Lärm, hier und da ist auch Lachen zu hören. Darf man das? Gehört sich das?
Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden… Denn wir sind gerettet, doch auf Hoffnung hin. Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.
Hoffnung und Geduld haben ihren eigenen Wert, ihr eigenes Gewicht. Warten Sie noch damit, den Adventskalender aufzuhängen: Alles hat seine Zeit. Die Stürme des Lebens, die Flut der Sorgen, der dunkle, ungewisse Morgen: Bei allem Bedrückenden und mitunter nur schwer Erträglichem werden wir dabei unserer Wurzeln bewusst, da hören wir Gottes Verheißung neu, da sehen wir uns mit unserem Nächsten verbunden im Licht der Liebe Christi.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.