Am Anfang war alles gut – noch, möchte man unwillkürlich ergänzen: Die Schöpfung im Einklang mit sich und ihrem Schöpfer – noch kennt sie keine Umweltzerstörung, noch muss sie nicht den harten Gesetzen der Ökonomie weichen, noch ist ihre Gestalt wild und anmutig!
Am Anfang war alles gut – in der Beziehung, die von der Liebe getragen alles zu überwinden und zu überdauern schien – bevor Missklänge die Harmonie zu stören begannen, bevor gewichtet, gerichtet und schließlich nur noch erbittert gestritten wurde!
Am Anfang war alles gut – in einem Leben, das voll war von strahlenden Visionen, kühnen Hoffnungen und großen Träumen – bevor das Grau des Alltags, der Sachzwänge und vielen Pflichten den Horizont in weiter Ferne verschwinden ließen, bevor aus dem prallen Leben nurmehr ein schales Überleben wurde!
„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, schrieb der Dichter Hermann Hesse, und wir lassen uns gerne anrühren von Berichten aus Anfangszeiten: „Wisst Ihr noch, damals…!“ Da gab es schlicht noch keine Gelegenheit für große Fehler und Versäumnisse! Da hat sich noch nicht all das gezeigt, was später so problematisch wurde.
Ohne die Erfahrung des Schiffbruchs fällt es leicht, das Ruder in die Hand zu nehmen und in See zu stechen, auf große Reise zu gehen: Bevor uns die sog. Realität einholt und bevor jene andere Sehnsucht nach dem stillen Hafen sich bemerkbar macht.
Es tut gut, einzutauchen in die Erinnerung an unsere Anfänge, an frühere Zeiten. Früher, so denkt man oft, war wenn nicht alles, so doch vieles gut, besser zumindest als heute: Früher war „mehr Lametta“! Da war noch Anstand in der Welt, da herrschten Recht und Ordnung!
In den Nachwendejahren wuchs sie rasch heran, jene „Ostalgie“, die bis in unsere Tage den einst real existierenden Sozialismus zur heimeligen Folklore verklärt – und ich kann Ihnen versichern, dass es auch in den „alten Ländern“ Entsprechungen dazu gibt:
Jene von Gedanken an selige Kindheitstage durchwehte Retro-Welle, mit der man sich die 60er, 70er oder 80er Jahre wieder in die eigenen vier Wände zurückholt. Glanzvolle Zeiten müssen das gewesen sein, das eine wie das andere Jahrzehnt!
Ein flüchtiger Blick schon in die Geschichtsbücher oder ein ehrlicher Austausch mit Freunden und Verwandten gibt freilich zu erkennen, dass solch ungetrübte Vergangenheit nie wirklich existierte. Zu jeder Zeit und an jedem Ort gab es zudem Schrecken und Nöte, die weit größer waren als viele unserer heutigen Befindlichkeiten und Kümmernisse. Ob Gott jemals wieder zur Ruhe kam, nach jenem berühmten siebenten Tag, dem die Erschaffung des Menschen vorausging?
Die Frucht vom verbotenen Baum, sie blieb nicht lange dort hängen. Die Bibel erzählt von der Sintflut als einen radikalen Neustart, weil die Menschen einfach unverbesserlich waren – und wie auch damals nur „sola gratia“, allein aus der Gnade Gottes wieder Zukunft möglich wurde. Eine Zukunft, in der Gottes Kinder nichtsdestotrotz um goldene Kälber tanzen, wo Untreue und Verrat beinahe zur Dauererscheinung werden, wo die Rufe „kreuziget ihn“ nur allzu bald auf das „Hosianna“ folgen.
Am Anfang war noch alles gut. Wie finden wir wieder dorthin, in dieses verlorene Paradies? Das Rad einfach zurückdrehen? Dieser Wunsch wird an den Stammtischen und auf den Straßen immer wieder laut, auch in der Kirche sind solche Stimmen mitunter zu vernehmen. Und ich finde, der Blick zurück hat durchaus seine Berechtigung:
Er hilft, die eigenen Wege, den aktuellen Standpunkt besser zu verstehen. Traditionen sind nicht dazu da, abgeschafft zu werden, sondern wollen vermitteln, was als wertvoll erfahren wurde zu unterschiedlichsten Zeiten, was trägt in den Wechselfällen des Lebens und also auch uns eine Stütze sein kann.
Nun mögen Sie vielleicht denken: Ja klar, das muss der Mann unserer Superintendentin so sagen – die Institution Kirche, „die da oben“, die hängen ja so sehr an den alten Formen und vermeiden jeden Aufbruch ins Unbekannte! Hat nicht der Apostel Paulus selbst gesagt: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur: Das Alte ist vergangen, siehe – Neues ist geworden!“ Feiern wir in dieser Osterzeit nicht das neue Leben? Was soll da das Reden über die Anfänge, von Gottes Schöpfung?
Nun, in diesem Wonnemonat Mai gibt sich die Natur immerhin alle Mühe, uns vom neuen Leben zu predigen – weit besser, als ich es könnte! Farben entfalten sich in fast vergessener Fülle, Blüten, eine kunstvoller als die andere, verströmen herrlichen Duft, das frische Grün und das warme Sonnenlicht wecken unsere Sinne.
Gott zu loben angesichts solcher Wunder, das entspringt hier weniger dem Staunen über Unerwartetes – wir kennen und verstehen die Mechanismen der Biologie, wissen um ihre Gesetzmäßigkeit – aber dennoch ist es ein berechtigtes, freudiges Zeugnis von Dankbarkeit und Aufbruchstimmung. Die neue, oder besser: Die zu neuem Leben erweckte Schöpfung, sie steht uns hier in ihrer wunderbaren Fülle vor Augen.
Warum können wir das nicht so stehenlassen? Eine Erde, die uns „untertan“ ist, verliert so rasch ihren himmlischen Glanz. Wo wir Gott spielen, hört sie bald auf, uns gute Heimat zu sein. Wo dem Fühlen und Schauen das Handeln folgt, da schwindet schnell die Unschuld, und der Zauber des Anfangs verblasst unwiederbringlich.
Gestern ging ich in Leipzig über einen Friedhof: Welche Gegensätze, welch ein Widerspruch zeigt sich da, wenn zwischen den Gräbern mit Sterbedaten geliebter Menschen sich so viele Blumen in ihrer schönsten Pracht zeigen, als gäbe es ein Fest zu feiern! Sie sind als Zeugen unserem heutigen Sonntag so viel näher, als ich es mit meiner Predigt bin: Jubilate – freut euch, und nicht jenes wiederkehrende „Fürchtet euch“, das sonst immer am Anfang steht.
Vielleicht erinnert uns die blühende Natur an die Handschrift unseres Schöpfers: Ahnungsvoll erkennen wir sie wieder als etwas Altvertrautes, dem wir uns auf eigentümliche Weise zugehörig fühlen. Die Schöpfung aus dem Nichts, von der wir zu Beginn hörten, die Überwindung des Tohuwabohu, wo alles nur wüst und leer, ohne Sinn und Ziel war, durch Gottes Schöpferhand ins Leben gerufen:
Ist es am Ende nicht dieselbe Hand, die er uns reicht in seinem Sohn, unseren Herrn und Bruder Jesus Christus? Dieselbe Hand, die uns und jeden auffängt, wenn wir aus dieser Welt fallen, den früher oder später vergehenden Blumen gleich?
Das lachende Auge kennt auch das weinende: Wir sehen die Schönheit, das Gute und das Gottgewollte, und ahnen doch die Vergänglichkeit, wissen um alle Begrenztheit. Der Blick auf unser Leben, unsere Geschichte – es ist zunächst eine Karfreitags-Perspektive:
„So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn hab“ – so wenig Aussicht gab es, dass wir uns selber aus dem Sumpf ziehen, selber zur Umkehr gelangen, selber einen neuen Anfang machen können, der frei ist von Altlasten und wirklich trägt.
Der Sonntag Jubilate in dieser österlichen Zeit: Er fügt unserem „Herr erbarme dich“ heute eine weitere Perspektive hinzu. Die alten Propheten deuten sie bereits an, die Psalmen singen davon, wenn sie die Hoffnung auf ein neues Leben in Gott verbinden mit dem Schöpferlob. Noch will das Alte unsre Herzen quälen, aber das Osterlicht leuchtet über seiner Hände Werk und gibt ihr einen neuen Glanz:
Was am Anfang gut war, soll wieder gut werden – in einem neuen Anfang, in einem neuen Werk seiner Hände.
Aus Liebe entfaltet Gott seine Schöpfung, aus Liebe erhält und erlöst er sie. Das ist es, was wir Christen mal mit freudigem Lob, mal mit seufzendem Herzen bekennen, das ist es, was allein uns guten Grund und Halt gibt in einer Welt, die manchmal in ein schreckliches, von Gott gänzlich unberührtes Tohuwabohu zurückgefallen scheint.
Viel Zufall, viel unmenschlicher Mutwillen ist in ihr am Werk – aber beides wird sich am Ende wie am Anfang der Hand dessen beugen müssen, der seine Liebe erweist und sprechen lässt – in der Schönheit seiner Schöpfung, durch Menschen, die ihm folgen, durch sich selbst in Jesus Christus.
Mit dem Baum der Erkenntnis wussten wir nicht umzugehen, weiß Gott – doch zum Baum des Lebens dürfen wir wieder kommen – Gott sei Dank, und darum: Jubilate!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.