Nicht zu fassen

Die Zeit ist zerbrochen. Die Uhren stehen still. Die Welt dreht sich weiter, als wäre nichts geschehen – und doch ist alles anders. Schwer ist es auszuhalten, noch schwerer anzunehmen:

„O Ewigkeit, du Donnerwort, o Schwert, das in die Seele bohrt, o Anfang sonder Ende! O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit, ich weiß vor großer Traurigkeit nicht, wo ich mich hinwende. Mein ganz erschrocknes Herz erbebt, dass mir die Zung am Gaumen klebt“:

Die Älteren unter ihnen kennen vielleicht noch dieses Kirchenlied, im heutigen Gesangbuch ist es nicht mehr zu finden. Johann Rist, ein Zeitgenosse Paul Gerhardts und wie er ein berühmter Lieddichter, schrieb diese Zeilen und fügte ihnen ganze 16 weitere Strophen hinzu: Schwere Kost sind sie allesamt, spiegeln sie doch die Härten jener Jahre ebenso eindrücklich wider wie auch eine starke Jenseitshoffnung, die uns in ihrer Ausprägung fremd anmutet.

Das Lied liest sich auf den ersten Blick geradezu wie ein Gegenentwurf zu unserem Predigttext, jenen so wunderbar mutmachenden Psalm: Der schildert eine traumhafte Zukunft, voll Lachen und Fröhlichkeit! Gelöst und dankbar kommen die Menschen wieder zusammen, lassen hinter sich alle Fesseln, allen Schmerz, allen Kummer und alle Tränen, denn „der Herr hat Großes an ihnen getan“ – das ist sein schlichtes, doch kaum zu überbietendes Glaubensbekenntnis, das uns schon bald zur Weihnachtszeit wieder begegnet im Jubelruf Marias:

Die Zunge, die in dem Kirchenlied noch am Gaumen klebt und keine Worte findet, sie ruft es hier frei in die Welt hinaus: „Der Herr hat Großes an mir getan“! Ein Traum wird Wirklichkeit. Eine Hoffnung wird bestätigt, eine Verheißung erfüllt.

Kein Wunder, dass wir uns diese Botschaft am Ewigkeitssonntag vor Augen führen: Genau das wünschen wir uns doch auch, das – und nichts Geringeres! Mit Tränen gesät haben wir doch schon reichlich, wir und so viele Menschen überall auf der Welt. Gerade dort, wo der Tod sichtbar in unser Leben tritt, wird uns alles andere doch so unsäglich klein und belanglos. Die Kämpfe des Alltags, unsere Sorgen und Pläne, wie unwirklich und unbedeutend erscheinen sie angesichts des Lebensendes!

Unser „ganz erschrocknes Herz“ hat meist auch einen ziemlich scharfen Blick und erkennt, wo billige Floskeln und Phrasen uns zugemutet werden. Trauernde, Hinterbliebene spekulieren jedoch nicht mit solch billiger Währung, das würde ihrem tiefen Schmerz und der Realität ihres neuen Lebens nicht gerecht. „Der Herr hat Großes an mir getan“ – nur das möchte ich sagen können, nur etwas Großes, unzweifelhaft Gutes könnte mich da trösten.

Den Betern unseres Psalms freilich schien auch nicht die helle Sonne, war der Himmel nicht ungetrübt: Ihr Blick geht zurück und erinnert an die großen Wunder, die Gott ihnen in der Vergangenheit schon getan hat. Ihr Blick geht nach vorne, voll Vertrauen und großer Erwartung. Geschichte und Zukunft bilden die beiden Brückenpfeiler ihres Glaubens, der nun in der dunklen Gegenwart ganz besonders gefragt und starken Spannungen ausgesetzt ist:

Noch sind die Gefangenen in der Fremde. Ist ihre Heimkehr, das erhoffte Wiedersehen denn so sicher, wie nach dem Winter der Frühling wiederkommt? Noch wird gesät, und niemand weiß, wie die Ernte ausfallen wird. An Orientierung, an Anhaltspunkten fehlt es nicht – doch der Weg durch die Zeit, jetzt und hier, er bleibt uns nicht erspart, wird lang und mühsam und führt uns dabei mitunter hart an unsere Grenzen.

Ich staune manchmal, was für große Belastungen manche Menschen aushalten können – und wie schnell es einsam wird um jene, die unter der Last zerbrechen: „Was ihr getan habt den Geringsten unter meinen Brüdern (und Schwestern), das habt ihr mir getan“ – und das ist nicht immer Großes, und oft nicht mal das Bitternötigste.

Wo nur gelacht wird mit den Lachenden, nicht aber auch geweint wird mit den Weinenden: Da bleibt der Boden hart und der Himmel fern. Da gibt es nichts zu ernten, da ist kein Raum für Träume, da bleibt die Ewigkeit nur eine große Leere.

Am Ewigkeitssonntag beschreiten wir wie Karfreitag eine Grenze: Doch wir scheuen sie nicht. Am Ewigkeitssonntag gehen viele zu den Gräbern ihrer Lieben: Ein Beten mit den Füßen, ein Akzeptieren eigener Ohnmacht und manchmal, Gott sei Dank, auch verwegener Hoffnung!

„Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Gott“ – diese Unruhe, von welcher der Kirchenvater Augustin sprach, ist eine Unruhe, die uns hinausblicken lässt über unseren Tag und auch über unseren Horizont. Eine heilsame Unruhe, die uns nicht vergessen lässt, wie nahe und wie erschreckend das Ende manchmal ist – es ist kein Privileg der „hohen Jahre“, wie die Sterbedaten auch junger Menschen an den Gräbern lehren. Vielgestaltig ist das Leben, vielgestaltig auch der Tod.

Der Ewigkeitssonntag beschließt zugleich das Kirchenjahr, es ist dem Kalender immer ein kleines Stück voraus: In einer Woche wird der Bogen wieder aufs Neue ausgespannt, wenn wir Advent, das Kommen unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus feiern, wenn wir zum Heiligabend seine Geburt feiern und bekennen, dass Gottes Wort Mensch geworden ist.

In Jesus erfuhr Gott selbst all die Angst, Not, Verzweiflung und Versuchung, denen wir Menschen ausgesetzt sind. Wir haben es vorhin im Glaubensbekenntnis gesprochen: Gekreuzigt, gestorben und begraben.

Und dann sind wir wieder bei unserem Psalm: Gefangene, die der Herr erlösen wird. Träumende, die es nicht fassen können, deren Tränen zu Freudentränen werden, von Liebe verwandelte Kinder des Lichts. Dann wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan! Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.