Nebenwirkungen

Manchmal, so scheint es, verlieren wir Christen jeden Maßstab. Manchmal, da reden wir über die Welt und unseren Alltag, als stünden wir abgehoben über den Dingen, als hätten wir jederzeit die freie Wahl und alles unter Kontrolle! Und so kommt es, dass der Himmel uns manchmal näher scheint als die Erde – und wir schrecken auf, wenn die Realität sich unversehens und unsanft wieder zu Wort meldet.

Bibelverse wie die eben gehörten werden leicht missverstanden: Nachfolge wird mitunter interpretiert als Pflicht zur Selbstaufgabe, nur allzu menschliche Hoffnung wird verteufelt und im Glaubenseifer jedem natürlichen Lebenswillen widersprochen. Ja, Gotteswort in Menschenhand gerät nicht immer zum Segen!

Diese erste Ankündigung von Jesu Leiden und Auferstehung, sie steht unmittelbar vor dem Aufruf zur Nachfolge, hier wie auch in den Evangelien bei Matthäus und Lukas. Es ist somit naheliegend, die Passion Jesu auch direkt auf das eigene Leben zu beziehen: Schließlich geht die Heilsgeschichte geht ihrer Vollendung entgegen, da wird dann nicht mehr Rücksicht genommen auf Befindlichkeiten und kleingeistige Wünsche, da geht es ums große Ganze!

Doch noch sind wir nicht am Ziel. Jesus ist unterwegs nach Jerusalem: Ein Weg voller Widersprüche: Von Heilungen und großen Wundern wird zuvor berichtet, zugleich von ängstlichen Jüngern und ungebührlich fordernden Pharisäern. Das viele Volk, das zu ihm kommt, kennt ihn noch nicht richtig, und hat noch keinen Namen für ihn. Die meisten halten ihn für einen Propheten, wo Petrus bereits bekennt „Du bist der Christus“.

Das Ziel ist nahe, Jesus und seine Jünger sind unterwegs in der Gegend von Cäserea Philippi. Diese Ortsangabe machen die Evangelisten nicht ohne Grund, denn sie wussten: Im Jahre 70 n.Chr. hatten die Römer dort ein großes Militärlager errichtet. Von dort zogen sie aus nach Jerusalem, um nach langer Belagerung dann mit großer Übermacht und blutiger Gewalt den jüdischen Aufstand niederzuschlagen und den Tempel als religiöses Zentrum zu zerstören.

Den Evangelisten stand es schmerzlich vor Augen: Der Triumph der Täter, die Ohnmacht der Menschlichkeit, die Hiobsbotschaften jener Zeit als Anfechtung des Glaubens. Solch eine unerbittliche Realität legt auch uns ein Kreuz auf, macht die Nachfolge im Glauben zu einem echten Kraftakt, fordert Geduld und kostet oft große Überwindung.

Wieder einmal erleidet das Volk Israel Vertreibung, Verfolgung und Exil, und die frühen christlichen Gemeinden teilen damals ganz ähnliche, schreckliche Erfahrung mit ihnen. Viel zu verlieren gibt es nicht mehr, und vielleicht ist das ja der Grund für jene scharfen Töne, für diese harte Rede einer Nachfolge, die am Leben nicht sehr zu hängen scheint:

„Leg deine Hand nicht wieder an den Pflug, lass die Toten ihre Toten begraben“ – eine in Friedenszeiten geradezu barbarisch anmutende Forderung, die mit allen gewohnten guten Werten bricht!

Das Ziel ist nahe, mit Jesu Tod und Auferstehung rückt das Ende der alten Zeit heran, und damit verändern sich die Maßstäbe grundlegend – jedoch zu unserer Rettung, zu unserem Seelenheil, und nicht zur frommen Verklärung menschlicher Selbstaufopferung:

„Was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele?“ Das meint gewiss nicht den Weg auf die vielfältigen Schlachtfelder dieser Welt für irgendein angeblich höheres Ziel, wie es so viele Machthaber und Ideologen immer wieder für sich von anderen fordern!

Die zu bewahrende, offenbar heile und unbeschadete Seele – sie macht mir Kopfzerbrechen: Seit Adam und Evas Vertreibung aus dem Paradies existiert sie doch eigentlich nurmehr als Erinnerung, als ein verlorenes Gut, beim besten Willen unerreichbar für uns. Leiden und Kreuz, Liebe und Nachfolge – das alles ist für mich wie sicher auch für sie reich gefüllt mir inneren Bildern, Vorstellungen und Erwartungen. Mitgehen, mitleiden: Das ist die Sprache, die wir Christen durchaus verstehen und manchmal auch beherrschen. Aber die Seele?

Selbst Paulus, jener wortgewandte Prediger gebraucht den Begriff der Seele eher zurückhaltend, wir haben es vorhin in der Epistellesung gehört, wo er das offenbar schon damals weit verbreitete Jesuswort zitiert:

Die ganze Welt zu gewinnen – das bedeutet für einen Denker wie ihn, großes Wissen zu erlangen, womöglich sogar prophetische Weitsicht über die Grenzen des Verstandes hinaus. Und doch, sagt Paulus, das alles ist nur Stückwerk. Es sind Teile eines Puzzles, die für sich genommen noch nichts erkennen lassen von dem großen Ganzen, in das sie sich letztlich einfügen.

Das tun allein der Glaube, die Hoffnung und die Liebe – diese drei, von denen er die Liebe als größte schätzt. Sie gemeinsam bilden das, was wir als Seele bezeichnen können – und sind alle gleichermaßen für uns unverfügbar: Unser Glauben muss von außen geweckt werden, beständig gestärkt und gepflegt werden.

Er gedeiht nicht im sicher abgeschirmten „stillen Kämmerlein“, wo auch die kühnste Hoffnung wie eine Pflanze ohne Licht und Wasser schnell austrocknen würde. Ja, und die Liebe: Es versteht sich von selbst, dass sie ein Gegenüber braucht, auf das sie sich bezieht, mit dem sie in Berührung bleibt.

Ohne Glaube, Liebe und Hoffnung kann man existieren, zweifellos: Aber ist das wirklich ein Leben? Steht das noch irgendwie in Bezug zu Gottes Kommen in die Welt, seinen Worten und Verheißungen, seiner Liebe, die unserer Liebe vorangeht? Ein solches Leben scheint mir nicht erstrebenswert, schon die Vorstellung davon lässt mich frösteln.

Ein Lebenskünstler werde ich wohl nie werden, ein Lebensschüler aber schon. Ich will das lernen: Meinen Leben aus dem starren Griff meiner Ängste und Wünsche zu lösen, um es befreit, dankbar und zuversichtlich aus Gottes Hand zu empfangen.

Das miteinander auszuprobieren und sich darin Mut zu machen ist, denke ich, ein lohnendes Ziel und macht den Weg leichter und reicher: Es macht die Bedrohungen nicht weniger real, und die Welt nicht frei von Leid und Tod. Aber es verändert den Blick darauf, und somit auch den Umgang mit übermächtig scheinenden Drohgestalten und ohnmächtig wirkenden Mitmenschen.

„Tod, wo ist dein Stachel“ – wer ihn hundert- und tausendfach miterleben musste wie die Älteren unter uns, stellt diese Frage nicht leichtfertig. Auch die Passion Jesu war auch kein kühner heroischer Akt, sondern ein abstoßend bitterer Kelch, gewürzt mit Einsamkeit und Tränen, Verleumdung und Verrat.

Das Wunder des Ostermorgens lag in jenen Tagen noch fern im Dunkel, es war schwach aufscheinende Hoffnung auf das Wort und erwachender Glauben an Gottes Treue wider allen Augenschein.

Manchmal, so scheint es, verlieren wir Christen jeden Maßstab, und manchmal ist uns der Himmel näher als die Erde – doch in der Nachfolge wird beides in den Blick genommen: Die verlorene Welt, die unseren vollen Einsatz für die Schwachen und Kleinen fordert, und die Weite des Himmels, die uns auch im Dunkel nicht verzweifeln lässt.

In der Nachfolge erinnert sich unsere Seele an das Paradies und sieht den Weg, der wieder in ein neues Leben führt. Gott zeigt ihn uns in Jesus Christus, damit wir das Leben behalten. Das ist die gute Botschaft, die gute Hoffnung, der Weg der Liebe und des Friedens.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.