Nachgegangen

Wochenspruch Lk 19,10: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Der Blick auch auf das Kleine und Geringe, auf das wertlos Scheinende oder eben auf das Verlorene ist ein besonderes Merkmal des Lukasevangeliums: Maria, die junge Verlobte eines Zimmermanns, der schäbige Stall in Bethlehem, die Hirten als ersten Zeugen – all dies ist Ausdruck dessen, wie weit Gott für uns Menschen geht, wie tief und wirklich allumfassend seine Zuwendung ist.

Im Evangelium hörten wir das bekannte Gleichnis vom verlorenen Sohn. Ihm voran steht in Kapitel 15 das Gleichnis vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen: Sie alle sind Sinnbilder einer Unverhältnismäßigkeit, die jeder Logik, jedem besonnenen Kalkül, ja sogar unserem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden entgegensteht:

99 Schafe zurücklassen, nur um eines wiederzufinden? Nur wegen eines Groschens das ganze Haus auf den Kopf stellen? Eine große Feier nur wegen eines Menschen, der sich besann, nachdem er seine Familie vor den Kopf gestoßen und alles durchgebracht hat?

Diese Gleichnisse sind alle zusammen ein Hohelied der unverbrüchlichen Verbundenheit und Treue, des Nachgehens über alle Widerstände hinweg. In ihnen begegnet eine Großherzigkeit, die jeden Rahmen sprengt. Eindrucksvoll, ja – aber wohl auch eine Nummer zu groß für uns Menschen, unvereinbar mit unseren begrenzten Ressourcen und den oft unbarmherzigen Anforderungen unseres Alltags!

»Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist« – wir können ihm das bestenfalls in Ansätzen gleichtun: Wir können vielleicht die »Extrameile«, also ein paar Schritte weitergehen mit denen, die uns als unsere Nächsten anvertraut sind. Unsere Impulse können wir vielleicht etwas mehr beherrschen, wenn unsere Hilfe benötigt wird auch dort, wo uns das aus mancherlei Gründen schwerfällt. Unser Geld, unser Herz und unsere Hände bringen wir vielleicht auch dort ein, wo kein direkter „Erfolg“ garantiert ist.

Unser Predigttext steht am Anfang von Kapitel 19. Jesus zieht durch Jericho, und sein Ruf ist ihm vorausgeeilt: Viele wollen ihn sehen, so viele, dass Zachäus, ein reicher Zöllner von geringem Wuchs, auf einen Baum klettern muss für einen freien Blick – und vielleicht auch, um Abstand zu wahren zu all den Menschen, denen er schon viele Male das Geld aus der Tasche gezogen hat.

Jesus ignoriert das und lädt sich ungefragt bei Zachäus ein – zum Unmut der Umstehenden, doch das Wunder nimmt seinen Lauf: Zachäus, der kaum mit solcher Ehre gerechnet hat, ist wie verwandelt. Sein mit zweifelhaften Methoden erworbener Reichtum wird nun zum Segen für die Armen. Sein von Missgunst und Angst erfülltes Leben wird runderneuert – was für eine Befreiung!

Ich kenne viele Pfarrerinnen und Pfarrer wie auch Gemeindeglieder im Besuchsdienst: Von solch radikalen Effekten spontaner Bekehrung jedoch habe ich noch nie gehört. Selig zu machen, was verloren ist – das ist kein missionarischer Automatismus, so hell strahlt unser Heiligenschein auf niemanden ab.

Wenn ich Berichte höre von Schicksalsschlägen, familiären Zerwürfnissen und schweren Kränkungen, dann bekomme ich Bauchschmerzen bei diesen Gleichnissen. Da möchte ich viel eher warnen und raten: Gewinnt Abstand! Lasst die Tür verschlossen! Schüttelt den Staub von euren Schuhen und geht euren Weg, anstatt euch wieder und immer wieder unseligen Dynamiken auszusetzen, die euch immer tiefer herabziehen, womit am Ende niemandem geholfen ist, sondern sich Unrecht und Unheil verfestigen.

Was ist mit dem verlorenen Vertrauen, der verlorenen Lebenszeit, den verlorenen Perspektiven? Nicht ohne Grund rührt das Gleichnis vom verlorenen Sohn an Erfahrungen so vieler, und lässt viele mit mehr Fragen als Antworten zurück. Und so emotional bewegend die Erzählungen von Wiederkehr, Heilung und Errettung auch sind – mindestens genauso spannend wäre ja zu wissen, wie es danach weitergeht:

Wie lange hält die Dankbarkeit des verlorenen Sohns und das Glück der wiedervereinten Familie wohl an? Für immer, oder doch nur für eine kurze Zeit, bis es ihn wieder hinauszieht und er erneut alles und alle hinter sich lässt?

Jericho ist die letzte Station Jesu vor Jerusalem. Dort wartet bei seinem Einzug eine noch größere Menschenmenge auf ihn: Die Stadt ist erfüllt von lautem Jubel, Palmzweige werden vor ihn auf den Weg gestreut, freudige Erwartung liegt über seiner Ankunft. Doch wie bald folgen Tränen, Enttäuschung, viele Zweifel, viele Warnungen, Verrat und schließlich – der Tod.

Viele Kapitel füllt der Evangelist Lukas damit, nur eines, ganz am Ende, lässt ein neues Licht auf alles fallen. „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ Einmal wieder ist es ein Engelswort, das die Sprachlosigkeit am leeren Grab überwindet und neue Horizonte öffnet.

Was sucht ihr Versöhnung bei Menschen, die Euch übel wollen? Was sucht ihr Frieden bei denen, die beherrschen und unterdrücken wollen? Was sucht ihr Gerechtigkeit bei denen, die ihr Erbteil verprassen, das Unrecht vermehren, die Lüge befördern und nur um ihr eigenes Seelenheil besorgt sind? Was sagen die Leute, wer ihr seid?

Liebe Gemeinde, der Blick auch auf das Kleine und Geringe, auf das wertlos Scheinende oder eben auf das Verlorene ist ein besonderes Merkmal des Lukasevangeliums, seiner Wiedergabe der »guten Botschaft«:

Überstrapazierte Geduld, die Überforderung von Leib und Seele, die ungeschützte Preisgabe guter Gemeinschaft und Lebenshoffnung – das wäre kaum eine gute Botschaft, und davon lesen wir auch nichts bei Lukas oder in den anderen Evangelien, Briefen und biblischen Texten. Davon spricht nur der Teufel, wenn er die Schrift auslegt auf seine wie immer geschickte und verführerische Weise.

»Freut euch mit mir«, heißt es in den Gleichnissen vom Verlorenen: Freut euch mit mir, den ich habe mein Schaf, meinen Silbergroschen, meinen Sohn wiedergefunden. Jesus ist da wirklich gut zu Fuß, auch da, wo uns die Strecke zu lang, zu mühsam und unzumutbar wird:

Er heilt die Kranken, weckt Tote auf, schenkt Reichtum, wo Mangel herrscht. Er wacht, wo wir schlafen, er geht ans Kreuz für unsere Schuld, er steigt hinab in den tiefsten Grund, um uns neu den Himmel schauen zu lassen. „Freut euch mit mir“, das ist die gute Botschaft, die allein in Gottes Sohn gegründet ist.

Wir folgen seinen Spuren, doch versuchen wir um Himmels willen nicht Gott zu spielen – das tun schon so viele andere, vermehren dadurch das Elend in der Welt und verlieren sich darin. »Freut euch mit mir«, denn was tot ist, ist wieder lebendig geworden, und was verloren war, ist gefunden worden.

Wenn diese Freude an Gottes Wirken uns bewegt, wir sie teilen und weitergeben können – dann bringen auch wir Licht ins Dunkle und lassen die Welt um uns und in uns heller werden. Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist –
und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen in Jesus Christus – Amen!