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Mehrwert

Ist das nicht ungerecht? Da geht jemand nach einer arbeitsreichen Zeit erschöpft am Abend heim. Als ihn aber sein Herr empfängt, schenkt er ihm nicht die ersehnte und verheißene Ruhe: Nein, da warten weitere Aufgaben auf ihn. Kein Feierabend, kein Frieden und auch kein Dank.

Es ist noch nicht alles getan! Es sind noch nicht alle Pflichten erledigt! Und nicht zu vergessen: Er bleibt trotz allem nicht mehr als ein einfacher, im Grunde unnützer Knecht! Nichts besonderes zeichnet ihn aus, er ist wie jeder andere und schafft keinen „Mehrwert“.

Liebe Gemeinde, gibt es etwas, das wir als Nachfolger Jesu erwarten können, am Abend unseres Lebens? Oder müssen auch wir damit rechnen, dass unsere Bilanz so bescheiden, ja im Grunde beschämend ausfällt? Doch halt, unser Bibeltext beschreibt ja eine andere Situation: Nicht das Ende des Lebens ist im Blick, sondern das Ende eines Arbeitsauftrages. Der Knecht hat nach der Feldarbeit eben noch die nötigen Handgriffe im Haus zu tun. Wahrscheinlich handelt er dabei nach einem fest geregelten Tagesablauf, er kennt seine umfangreichen Pflichten und geht ihnen ohne zu klagen nach.

Dennoch, die Erzählung weckt Widerspruch: Pflegen wir nicht gerade in unserer Kirche eine andere Kultur als das kaltherzige Pochen auf Leistung? Ist es denn nicht vor allem der freundlich-geschwisterliche Umgang von Gemeinde und kirchlichen Mitarbeitern, der unser gutes Miteinander kennzeichnet? Wirkt sich eine Haltung der Wertschätzung nicht letztlich auch in Firmen, in den Familien und Schulen positiv aus?

Nun also Herr und Knecht, wie Martin Luther übersetzt. Der Knecht, der für seinen Dienst bezahlt wird, über den er sich mit seinem Herrn geeinigt hat. Er erfüllt seine übertragenen Aufgaben, nicht mehr und nicht weniger. Für den geleisteten Dienst bekommt er den Lohn, hat aber keinen Anspruch auf Anerkennung oder eine andere Form des Dankes. Auch ist sein Herr ihm gegenüber offenbar zu nichts verpflichtet, das Dienstverhältnis ist klar.

Und doch wirkt er undankbar, der Herr. Sieht er seinen Knecht überhaupt als Menschen? Nimmt er ihn nur dienstleistenden Schatten wahr? Knechte und Mägde haben früher auf den Bauernhöfen nicht nur gearbeitet, sie waren Teil der Großfamilie, Teil der engen Gemeinschaft, die aufeinander angewiesen arbeitete. Wenn bei der Ernte der letzte Wagen in den Hof einfuhr, gab es ein großes Festessen und Erntekrone wurde gewunden, so erzählen es die alten Frauen auf dem Land. Ein undankbarer Dienstherr galt als hartherzig und geizig.

Und genau diesen Eindruck hinterlässt der Herr im Gleichnis des Lukas: Selbst wenn der Knecht alles getan hat, was ihm aufgetragen war, so soll er sich weiter demütigen. Ist das nicht der glatte Gegenentwurf zu jener vielgerühmten bedingungslosen Zuwendung Gottes, die uns Menschen ohne Gegenleistung zugesteht, was wir zum Leben brauchen.

Es sind doch diese Bilder, die wir viel lieber zeichnen, wenn wir vom Reich Gottes sprechen. Hier bei Lukas jedoch kommt das Reich Gottes nicht mild und sanft daher: Es scheint, dass es auch fordernd entgegentritt, uns mit äußerster Konsequenz in Dienst und in die Verantwortung nimmt. Und nicht immer fällt dieser Dienst leicht.

Conrad Ferdinand Meyer erzählt in seiner Ballade „Füße im Feuer“ eine Begebenheit aus der Zeit der Hugenottenkriege: Die Frau eines Burgherren war von Soldaten des Königs gefoltert worden, um Verstecke der Hugenotten zu verraten: Ihre Füße wurden ins Feuer gehalten, sie jedoch schwieg weiter und kam elend ums Leben. Jahre später nun klopft derselbe Soldat, mittlerweile zu hoher Stellung gekommen, auf seiner Durchreise wieder an das Tor dieser Burg und fordert Obdach für die Nacht.

Erst spät erkennt er den Ort und die Familie, erinnert sich an die schrecklichen Einzelheiten damals, an seine Unbarmherzigkeit wie an die Schmerzensschreie des Opfers. Nach einer angstvoll durchwachten Nacht bricht er früh am nächsten Morgen wieder auf. Der Burgherr begleitet ihn ein Stück. Seine Züge sind verhärmt, seine Haare über Nacht grau geworden.

Zum Abschied wendet sich der Soldat anerkennend zum Burgherrn: „Ihr seid ein kluger Mann, Ihr wisst, dass ich dem größten König eigen bin.“ Darauf erwiderte der Burgherr „Du sagst’s! Dem größten König eigen! Heute ward Sein Dienst mir schwer … Mein ist die Rache, redet Gott.“

Kann Gottes Gnade hart sein, kann seine Liebe wehtun? Es gehört immerhin viel Überwindung dazu: Die Überwindung ureigener Empfindungen und Bedürfnisse. Die Überwindung, gutes Recht einzufordern, gleiches mit Gleichem zu vergelten. Das fällt schwer.

Im Dienst Gottes stehen – was das bedeutet, drückt weniger die lutherische Übersetzung von Knecht und Herr aus. Im Urtext finden wir das Wort „doulos“, was mit „Sklave“ übersetzt wird. Regt sich auch hier innerlicher Widerstand, weil wir uns als freie Menschen verstehen und Sklavenhaltung weder kennen noch gutheißen?  Oder sind es die Bilder so vieler moderner Sklaven, die hier an unser Gewissen rühren?

Wir definieren nicht gern unsere Situation, unser Selbstverständnis über dieses Bild. Viel lieber beschreiben wir unser Verhältnis zu Gott als Freundschaft oder Partnerschaft oder als Vater-Kind-Beziehung. Und doch lohnt es sich, genauer hinzusehen: Der Sklave befindet sich nicht nur in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis zu seinem Herrn, nein, er ist sein Eigentum. Er weiß sich in allen Lebenslagen und Entscheidungen abhängig von ihm. Zugleich kann er von ihm erwarten, dass er für ihn sorgt und ihn am Leben erhält.

Martin Luther schreibt in seinem kleinen Katechismus: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält … für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.“

Schon deshalb, weil ich sein Geschöpf bin, von ihm mein Leben empfange. Weil ich es aus ihm heraus täglich erhalte und es am Ende wiederum von ihm empfangen werde, schon deshalb bin ich unbedingt abhängig von Gott. Aus mir selbst heraus kann ich mir das Leben nicht schenken oder erhalten, es hängt an Gott. Es ist derselbe Gott, der sich nicht zu gering ist, seinen Jüngern die Füße zu waschen – seinerseits ein Sklavendienst.

Ein Dienst, der vorausnimmt, was sein Tod am Kreuz bedeutet: Er dient bis zum Tod am Kreuz und schafft uns, die wir auf ihn vertrauen, Recht vor Gott. Auch wenn wir unsererseits unnütz sind, weil wir nicht genug geliebt, nicht genug vergeben, nicht genug gedient haben – so dürfen wir doch in seiner Gegenwart leben, vertrauensvoll an seinen Tisch treten.

Wir sind etwas schuldig – wir schulden einander das, was wir selbst empfangen: Wie der Samariter dem Verwundeten tat, was er zu tun schuldig war, auch wenn es sich um einen Wildfremden handelte, der in Not geraten war.

Oft genug geht es im Leben einfach nur darum, das Selbstverständliche zu tun neben dem Außergewöhnlichen, das manchmal auch von uns verlangt wird. Wir sollen weinen mit den Weinenden und lachen mit den Lachenden. Wir sollen einander so lieben, wie er uns geliebt hat. Wir sollen uns auf die Seite derer stellen, die in der Bergpredigt als Arme, als Verfolgte und Hungernde beschrieben werden.

Das soll die Beziehung untereinander bestimmen, auch wenn an mancher Stelle uns der Dienst schwer wird. Gottes Liebe kann fordern, Gottes Gnade kann uns alles abverlangen und ja, manchmal auch unsere Pläne schmerzhaft durchkreuzen – doch hören wir dabei nicht auf unter seiner Sonne zu leben, nach seiner Liebe zu dürsten, uns nach ihm auszustrecken.

Liebe Gemeinde, es mag uns seltsam anmuten, das Bild von Herrn und Knecht oder Herrn und Sklave. Doch es hat seine eigene Würde, uns in seinen Dienst gestellt zu begreifen: In unserem alltäglichen Tun, in unserem Leben als Christ, in unserem gemeinsamen Weg als Gemeinde.

Gott gebe uns Kraft und Geduld, dass auch wir eines Tages sagen können: Wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft…