„Es hätte schlimmer kommen können!“ Sicher haben Sie solche Sätze auch schon mal gehört: Ein Autounfall, aber nur mit Blechschaden. Das Portemonnaie verloren, aber mit nur wenig Geld darin. Eine unangenehme Krankheit, aber sie fesselt einen immerhin nicht für lange Zeit ans Bett. Ja, keine Frage – das alles hätte schlimmer kommen können, und wir dürfen uns in solchen Fällen glücklicher schätzen als andere, die es härter getroffen hat.
Aber mal im Ernst: Was bitte ist das für ein schwacher Trost! „Sei doch froh, dass dir das Haus nicht bis auf die Grundmauern niedergebrannt, dass nicht dein Konto leergeräumt und dich niemand aus der Stadt gejagt hat“: Soll das etwa der Maßstab sein, mein Lebensglück zu bemessen? Auch wenn die Skala natürlich oft noch weiter nach unten reicht, so hat sie in der Regel auch durchaus noch Luft nach oben: Der Normalzustand liegt in der goldenen Mitte.
„Es hätte schlimmer kommen können“ – es ist ein trübes Evangelium, das mit diesem Satz gepredigt wird, eine ziemlich kümmerliche Hoffnung und ein ungedeckter Scheck obendrein: Denn „noch ist nicht aller Tage Abend“ – auch so ein unerträglich schlauer Spruch! Er mag ja gut gemeint sein, für jeden von Not und Unglück Getroffenen jedoch wirkt es wie Hohn, ja mehr noch: Wie ein Verbot, den eigenen unseligen Zustand in Worte zu fassen und zu beklagen: „Hab dich nicht so, beiß die Zähne zusammen, sei froh, dass nicht noch…“ usw. usf.
Nun, seine Ratgeber kann man sich nicht immer aussuchen. Aber es genügt schon ein flüchtiger Blick in die Bibel, um zu merken: Es darf geklagt werden! In den Psalmen, bei Hiob, bei den Propheten oder wie hier in den Klageliedern: Da wird nichts bemäntelt oder verschwiegen. Schreiendes Elend kommt darin zu Wort: Da schmecken wir nichts von dem Zuckerguss, der heute so gerne über alles gekippt wird. Vorwürfe werden laut, auch gegen Gott. Heftiger Zorn und Wut flammen auf angesichts erlittener Demütigungen, Unrecht, Schmerzen.
Unser Predigttext gibt dabei den eher harmlosen Teil der Klagelieder wieder, nur zwischen den Zeilen klingt noch nach, was in den Versen davor zu lesen ist: Da geht es richtig zur Sache, wenn es z.B. heißt:
„Ich bin der Mann, der Elend sehen muss durch die Rute seines Grimmes. Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben. Er hat mich in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind, und mich in harte Fesseln gelegt. Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet. Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen“ – da sage noch einer, in der Bibel werde nicht Klartext geredet!
Ich halte es daher auch keineswegs für einen Ausdruck von Bibeltreue, solch schrecklichen Realitäten, wie sie hier Ausdruck finden, vorschnell eine fromme Decke überzuwerfen: „Aber Jesus hat doch…!“ Was genau hat Jesus denn getan? Oft, so können wir es im Neuen Testament nachlesen, sehr oft sogar hat er geweint über das, was er sehen musste an Grausamkeiten, an Leid, an Hartherzigkeit und Kleinmut. Er hatte einen besonderen Blick für die, die nicht in vorderster Reihe standen, sondern mehr am Rand: Die gebrechlich waren, verachtet wurden, keine Perspektive hatten.
Wenn wir Jesu Spuren folgen, so führen sie uns ans Kreuz und in den Tod: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“, so bekennen wir es im Glaubensbekenntnis, und verkennen dabei oft, dass genau an diesem Tiefpunkt der Kern des Evangeliums, der frohen Botschaft zu finden ist:
Gott lässt sich weit herab, dorthin sogar, wo seine Schöpfung unrettbar gefallen ist und all seine ursprüngliche Schönheit verloren hat. Dort ist der Ort, wo sich das größte aller Wunder vollzieht, dort hat das Kreuz, das uns vor Augen steht, seine tiefen Wurzeln.
Dass wir nicht „gar aus“ sind, dass es „noch kein Ende hat“ mit uns, das ist diese unglaublich scheinende Hoffnung in den Klageliedern, das ist die Folge dessen, was wir bekennen mit unserem Glauben an den Gekreuzigten und Auferstandenen: „Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele“…
So erdet uns das Alte Testament. Es lehrt uns Christen, mit jener größeren Hoffnung ruhig etwas kühner zu leben: Nicht Kummer und Ärger runterzuschlucken aus falsch verstandener Ehrerbietung. „Gott allein die Ehre“ – das heißt auch, ihm als unserem Gegenüber auch ruhig etwas zuzumuten, unser Herz weit vor ihm zu öffnen, ihn hören zu lassen, was uns bewegt. Das zeugt von Vertrauen, und das zeugt von einem Glauben, der nicht starr und brüchig, sondern lebendig ist – und darum auch, wenn es sein muss, schwindelerregende Achterbahnfahrten mitmacht, wenn die Welt mal wieder Kopf steht und wir nicht weiterwissen.
Dann müssen wir keinen Sinn hineinzwingen in etwas, dass sinnlos erscheint. Ob etwas eine Strafe Gottes ist, eine Prüfung darstellt oder einem verborgenen Ziel dient – wer von uns mag das gleich erkennen? Und wer von uns darf wagen, so etwas einfach zu behaupten? Ich habe den Verdacht, dass solche Deuter, die meinen jede Schieflage geradebiegen zu können, in Wirklichkeit nur ihre eigene Weltsicht retten wollen. Kleiner Tipp: Das funktioniert nicht!
Als der Aufstand im Warschauer Ghetto – 80 Jahre ist das erst her – nach Wochen schließlich doch scheiterte, schrieb Jossel Rackower sein persönliches Bekenntnis nieder: „Ich sterbe – ruhig, aber nicht befriedigt. Ein Geschlagener, aber kein Verzweifelter. Ein Gläubiger, aber kein Betender mehr. Ein Verliebter in Gott, aber kein blinder Amen-Sager.“ Vom Sinn zu reden oder einem höheren Ziel verbietet sich an dieser Stelle. Das ist nicht sein Bekenntnis und auch nicht unseres. Dietrich Bonhoeffer fand ähnliche Worte in einem bekannten Gedicht, das er seiner Familie zum Trost vor seiner Hinrichtung schrieb und das wir nachher als Predigtlied singen.
Auch unser Predigttext ist ein solches Gedicht, vielleicht wurde es sogar ebenfalls gesungen: Es redet die Not nicht klein, es legt den Finger in die Wunde – und nicht auf den Mund des Klagenden! Es gibt ihm weiten Raum, damit er sich wiederfindet vor Gott und in dem, was Gott für ihn bedeutet, was er mit ihm wie eine alte Erinnerung verbindet: Barmherzigkeit, Treue, Hilfe, Güte. Wie Sterne am Himmel sind sie ihm jetzt in den schweren Stunden – fern und unerreichbar, aber nicht völlig aus der Welt. Das „köstlich Ding“, wie Luther schreibt, ist nicht immer eine Süßspeise, sondern oft hartes Brot, schwer zu kauen und zu verdauen.
Ist das zum Weinen? Ja, durchaus und leider nicht zu selten. Aber es ist auch die Wahrheit, in der Gott sich so zeigt, wie wir ihn eben nicht alle Tage begreifen, bekennen und loben: Weit entfernt von „Glück“ oder „Pech gehabt“, nicht vergleichbar mit unseren Erklärungsmustern, warum etwas so und nicht anders sein kann, alles andere als der dünne Strohhalm blinder Hoffnung. Manchmal steht Gott gegen allen Augenschein, gegen alle Erwartungen, gegen unsere größten Sehnsüchte. Manchmal stößt auch unser Glaube schmerzhaft an Grenzen.
Sich das einzugestehen, ist kein Zeichen von Schwäche. Das zu beklagen, in den scheinbar leeren Himmel zu rufen, gibt unserem Glauben eine eigene Würde und Gott die größte Ehre – über das Lob der Beglückten und den Dank der Geretteten hinaus.
Vor kurzem erst feierten wir Erntedankfest, zogen heimlich Bilanz, ob dies Jahr ein „liebes“ oder „leides“ war, wie Mörike es formuliert: Ich bin dankbar, vor Gott treten zu dürfen, so wie ich bin, so wie ich fühle und wie ich hier und da hadere und zweifele. Mir geht es außerdem gut, ich kann nicht wirklich nicht klagen – in diesem Jahr also ging mir der Dank leicht von Herzen und über die Lippen. Natürlich: „Es könnte besser sein“, wie auch „es hätte schlimmer kommen können“, und, nicht zu vergessen: „Noch ist nicht aller Tage Abend“!
Aber vergessen wir diese dummen Maßstäbe, mit denen wir am Ende nur uns und andere quälen: „Die Güte des Herrn ists, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen“. Wir sind mit diesem Ausblick, dieser Hoffnung nicht allein. Wir haben uns, wir haben Worte, die wir uns leihen, Räume, in denen wir bitten, klagen und uns bergen können.
Und wir haben ihn, Jesus Christus, Gottes Sohn, hinabgestiegen selbst in das Reich des Todes, damit wir nicht verloren gehen: Damit, wie es in Psalm 30 heißt, unser Klagelied sich verwandelt in einen Reigen, wir statt eines Trauerkleides die reinste Freude am Leib tragen, dass wir lobsingen und nicht stille werden. So erwarten wir getrost, was kommen mag:
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.