Der kleinste gemeinsame Nenner – das höchste Gebot: Beides gilt für dieses schöne Wort „Liebe“, das uns im Predigttext so oft begegnet. Es ist vielleicht das prägendste Wort im Alten, vor allem aber im Neuen Testament. Bei den Propheten, in den Evangelien, in allen Briefen begegnet es uns an zentraler Stelle.
Wir lesen von der Liebe Gottes, von der Liebe zur Wahrheit ebenso wie von der Liebe, in der wir wandeln und die wir einander erweisen sollen. Man kann also sagen: Liebe ist ein entscheidendes Wesensmerkmal von Christen, an der Liebe erkennt man sie – und an der Liebe werden sie auch gemessen.
„Gerade Du als Christ müsstest doch…“ – kennen Sie solche Vorhaltungen? Seltsamerweise werden sie meist von Menschen gemacht, die ihrerseits wenig von Kirche und Glauben verstehen, womöglich die christliche Botschaft sogar ablehnen. Experten scheinen sie dennoch zu sein, zumindest dann, wenn sie sich Vorteile von unserer christlichen Haltung erhoffen: Wir dürfen ihrer Meinung nach keinen Widerstand leisten. Nicht auf unsere Rechte pochen. Wir sollen nachgiebig, großmütig und gnädig sein bei allem, was uns widerfährt. Beim Schlag auf die linke auch die rechte Wange hinhalten – an diese Christenpflicht wird gern erinnert!
Auch der Predigttext nimmt uns in diese Pflicht, wenn es heißt: Wer seinen Bruder nicht liebt (den er ja sieht), der kann auch Gott nicht lieben (den er nicht sieht). Vielleicht erscheint Ihnen das ein Leichtes, ja trivial zu sein, da bei ihnen gute familiäre Verhältnisse herrschen: Ich wünsche es Ihnen von Herzen und bin dankbar, dass auch ich es diesbezüglich einige gute Erfahrungen machen durfte! Doch das Wort von der „Familienbande“ ist leider doppeldeutig:
Schon beim „Vater unser“ kostet es nicht wenige Menschen viel Überwindung, sich von der Vorstellung des eigenen Vaters zu lösen, der vielleicht nur sehr sparsam Liebe schenkt, oder der Liebe auf ungehörige Weise einfordert und dann mit Füßen tritt. Oder da ist die Mutter, die ihre Kinder vielleicht nicht wie in der Jahreslosung beschrieben „tröstet, wie eine Mutter tröstet“, sondern die missgünstig ist, eifersüchtig oder – als die schlimmste aller seelischen Strafen – kalte Gleichgültigkeit zeigt. Menschliche Niedertracht ist leider verbreiteter, als wir es uns vorstellen, und sie begegnet und fordert ihre Opfer oft auch in familiären Beziehungen.
Ich höre oft, dass läge am Wohlstand: Früher, als man noch stärker aufeinander angewiesen war, wo man mehr gemeinsam erledigen musste, da gab es sowas nicht. Und überhaupt: Wer interessiert sich heute noch für Gott und den Menschen nebenan? Die Segnungen des Sozialstaates machen persönliches Engagement überflüssig, und Liebe ist nurmehr ein hohles Wort, das schön klingt, wenn man es anschlägt. Ein hübsches Glöckchen, doch ohne jede Chance in einer lauten, von unablässigen Kämpfen und Krisen regierten Welt.
Dass das so nicht stimmt, weiß allerdings jeder, der einmal Liebe erfahren hat und nicht so schnell vergisst. Als meine Frau und ich vor über 20 Jahren heirateten, hatten sich die Vorzeichen unseres Lebens kurz zuvor verändert: Die zugesagte Arbeitsstelle war plötzlich weg, alte Weggefährten wandten sich ab, die Perspektiven standen schlecht. Und so kitschig es klingen mag, war es die Liebe, die wir im christlichen Glauben erfuhren wie auch die Liebe zueinander, die uns Halt gab und trotz allem nach vorne schauen ließ – nicht nur dieses eine Mal.
Die Botschaft von der Kraft der Liebe war schon immer wichtig, denn schon immer gab es Umstände, an denen die Menschen zu verzweifeln drohten: Kriege, Ungerechtigkeit, Ungewissheit, seelische und materielle Not. Nun, dabei auf die Liebe Gottes zu vertrauen und auf die Liebe eines guten Menschen, das mag noch gelingen. Aber muss ich, kann ich überhaupt Liebe empfinden gegenüber Brüdern, die mir ans Leder wollen? Das Gebot der Feindesliebe – denn um nichts anderes geht es hierbei – macht mir persönlich vor allem eines bewusst: Dass meine Liebe auch Grenzen hat. Und dass Gottes Liebe nicht mein Maßstab sein kann.
In meinem Alltag, beruflich wie privat, da plane und taktiere ich, wäge Risiken ab, vermeide unnötigen Aufwand und schaue deswegen sehr genau hin. Liebe hingegen, so sagt man, sei „blind“. Sie ist damit das ganze Gegenteil: Sie prüft nicht, macht keine Unterschiede, sie ist einfach da und lässt alles in einem anderen Licht erscheinen. Sie kennt keine Vorbedingungen – da käme sie tatsächlich nicht weit – sondern sie blickt voll grenzenlosem Vertrauen in die Zukunft. So geliebt zu werden, das ist etwas Unbegreifliches, Unverdientes. Das kann uns verändern, oder besser: Das kann das Beste in uns zum Vorschein bringen.
Wenn wir uns geliebt wissen, können wir unseren Panzer, unsere harte Schale ablegen. Wenn wir uns geliebt wissen, müssen wir nichts mehr beweisen, müssen uns nicht mehr groß hervortun und wichtig machen. In den Augen dessen, der uns liebt, sind wir das alles schon: Da sind wir bereits respektiert, einzigartig und wertvoll. Schwer zu glauben, vor allem, wenn ich mich selbst nicht so sehen kann.
Liebe holt mich aus der Deckung und macht mir peinlich bewusst, woran es mir mangelt, auch wenn mein Gegenüber das einfach so hinnimmt. Ich könnte schon noch geduldiger sein. Ich könnte aufhören nach weiteren Ausreden zu suchen und wirklich mal was tun. Ich könnte meine kleinen und großen Wünsche etwas zurückstellen und mehr darauf hören, was anderen nottut.
Aus der Liebe folgt bei Johannes immer gleich die Erkenntnis: Nicht die mathematisch-berechnende, sondern die Erkenntnis des unerwartet Wunderbaren in der Liebe. Sie scheint blind, blickt tatsächlich aber sehr tief – und traut mir schier Unmögliches zu. Und dieses Zutrauen ist keine Verpflichtung zum sicheren Scheitern, sondern eine Befreiung zu mutiger Tat: Vielleicht sogar an meinem Bruder, an meinem Nachbarn oder meinem Kollegen, auch wenn dieser so gar nicht liebenswürdig daherkommt.
Aus der Erkenntnis folgt bei Johannes immer auch der Glaube: Nicht der, der die Augen verschließt vor schmerzlicher Wirklichkeit, vor eklatanten Missständen oder realer Bedrohung. Sondern der Glaube, der sieht und mitleidet, ohne aufzugeben. Der alles Hohe und Tiefe vertrauensvoll in Gottes Hände legt, weil nur er heil machen kann, woran die
Welt krankt.
Liebe, Erkenntnis, Glaube – und wieder Liebe: Untrennbar folgt dies bei Johannes aufeinander, auf diesen Weg lädt er die Gemeinde mit seinem Brief ein. Es war eine junge Gemeinde, in der viel gestritten wurde über die rechte Form der Lebensführung, des Gottesdienstes, der Stellung zur Gesellschaft usw. So wie wir heute hatten auch die Christen damals schwierige Themen zu verhandeln und viele unterschiedliche Positionen in den Blick zu nehmen.
Johannes geht in seinem Brief nicht auf die Einzelheiten ein. Er erinnert die Gemeinde an den kleinsten gemeinsamen Nenner – und an das höchste Gebot: Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wo die Liebe herrscht, da ist auch ehrliche Erkenntnis, die nicht nur nach Beweisen für dieses oder jenes sucht: Erkenntnis, die nicht der eigenen Eitelkeit dient, sondern die auch verstehen und lernen und wachsen will.
Wo solcher Erkenntnis Raum gegeben wird, da kann dann auch der Glaube wohnen: Der Glaube nicht an das ach so Gute im Menschen, wohl aber an seine Möglichkeit, sich zu bessern. Der Glaube, dass Gott, der uns so vorbehaltlos annimmt und liebt, dass er, der seinen Sohn für unsere Verfehlungen dahingab, dass er uns auf dem Weg sehen möchte: Auf dem Weg zueinander, über Trennendes hinweg und hin zu dem herrlichen Leben, das uns verheißen ist.
Ein mühsamer Weg, ohne Frage, und stellenweise auch ein schmerzlicher. Wir müssen ihn aber nicht alleine gehen: Wir dürfen ihn mit Gott gehen und das, was uns bedrückt, ärgert oder müde macht, vor ihn bringen. Wir dürfen ihn mit Brüdern und Schwestern im Glauben gehen und uns von ihnen Stärkung, Trost und Geborgenheit schenken lassen.
Ablehnung hat es immer leichter als Liebe, Feindschaft greift viel schneller als Liebe um sich: Kein Wunder, dass Revolutionäre, Ideologen und alle, die einer „Sache“ dienen, so wenig auf Liebe geben. Doch Gott gibt uns Kraft zur
Geduld und schenkt uns Freude an seinen Wundern.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.