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Die Worte aus Psalm 63 haben wir bereits eingangs gelesen. Nun haben wir sie noch einmal gehört, als Predigttext, gleich nach dem Glaubensbekenntnis. Die Parallelen, aber auch die Unterschiede beider Texte sind deutlich:

Das Glaubensbekenntnis greift die zentralen Inhalte der christlichen Lehre auf. Im Ton ist es darum ein wenig nüchtern und klingt etwas formelhaft. Ganz anders wirkt dagegen unser Psalm: Seine Worte kommen von Herzen. Sie entspringen scheinbar unstrukturiert ganz verschiedenen, ganz persönlichen Empfindungen: Sie reden von Durst und Verlangen. Sie reden von Freude und Herrlichkeit. Sie reden vom Glauben an Gott und davon, was das Leben ausmacht.

Was macht das Leben aus? Was gibt ihm Sinn, was macht es wertvoll? Der Apostel Paulus zeichnet so etwas wie eine verkehrte Welt, wenn er sinngemäß schreibt: Alles, was ich gelernt und gelesen habe, mein ganzes Fachwissen – das ist Dreck im Vergleich zu dem, was mir der Glaube an Christus eröffnet hat. Ich bin zwar noch weit davon entfernt, vollkommen zu sein, alles zu verstehen, zu begreifen und zu akzeptieren, was dieser Glaube an Christus mit sich bringt: Aber danach richte ich mein Leben aus und lasse alles andere hinter mir.

Und im Evangelium vergleicht Jesus das Himmelreich mit einem verborgenen Schatz und einer kostbaren Perle: Die kluge Kaufmann, der davon erfuhr, verkaufte alles, was er hatte, um an diese eine Kostbarkeit zu gelangen, die so viel wertvoller war als alles andere. Was besitzt den höchsten Wert im Leben, in unserem Leben? Haben wir alles sorgfältig geprüft und abgewogen, was wir in unser Leben lassen? Stimmt unsere Rechnung?

Solche Fragen stellen sich vor allem Menschen, die skeptisch und unzufrieden sind. Die Bilanz könnte besser sein, also wird nach Ursachen geforscht, kritisch alles unter die Lupe genommen und verglichen. „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht noch was Bessres findet.“ – diesen Spruch erhalten junge Menschen früher oft mit auf ihren Weg, als gutgemeinter Ratschlag für die Partnerwahl. Und ob der oder die Erwählte wirklich die beste Wahl ist, lässt sich ja heute sogar schon am Computer, mit Checklisten auf Partnerbörsen im Internet ermitteln. Ein Rückgang der Scheidungsrate ist dadurch leider nicht festzustellen.

Eine Bilanz des Lebens ziehen aber auch ältere Menschen: Wenn ihnen die Welt nicht mehr grenzenlos offen steht aufgrund schwindender Kräfte, wegen Krankheit oder wenn ein Testament aufgesetzt werden soll – dann kommen endlich alle Posten zu Papier, und neben dem Silberbesteck und den Fotoalben erscheinen da mitunter auch schmerzhaft die Fehlinvestitionen, die ungenutzten Chancen und die entgangenen Schätze.

Wovon lassen wir uns leiten, wenn wir wichtige Entscheidungen für unser Leben treffen? Hoffentlich nicht von den sog. „Lebenshilfen“ und Ratgebern, die seit Jahren schon den Büchermarkt überschwemmen. Die Verhaltensforschung lehrt uns, dass es weniger das Wissen und der Verstand sind, die uns in unserer Wahrnehmung und in unserem Handeln beeinflussen, sondern weit mehr unsere persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen.

Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir, mein ganzer Mensch verlangt nach dir aus trockenem, dürrem Land, wo kein Wasser ist. So schaue ich aus nach dir in deinem Heiligtum, wollte gerne sehen deine Macht und Herrlichkeit.

Ob aufgrund falscher Entscheidungen, ob infolge ungewollter Entwicklungen: Manchmal enden Lebenswege in einer trockenen, leeren Wüste. Es ist die Arroganz der stets weich Gebetteten und Gutbehüteten, hier Ratschläge erteilen und es besser wissen zu wollen. Und es ist weiß Gott keine Selbstverständlichkeit, sondern nichts weniger als ein Wunder, wenn in solchen Sackgassen mitunter neuer Glauben und neuer Mut erwächst. Rechenkunst hat damit wirklich überhaupt nichts zu tun, weshalb wir den spitzen Bleistift und die Waagschalen beiseitelegen sollten, wenn wir über das Leben von Menschen reden.

Auch wenn der Schatz im Acker und die kostbare Perle es vielleicht vermuten lassen: Es geht nicht um eine Kapitalisierung menschlichen Daseins. Sie und ich – wir sind doch keine „Projekte“, die gelingen oder scheitern können, und wir sind auch keine Unternehmen, die expandieren oder pleite gehen! An solchen Maßstäben dürfen wir uns nicht, darf niemand uns messen.

Als Salomon König wurde, bat er Gott nicht um Macht und Reichtum. Was immer er damit auch für Erfolge hätte erzielen können – es war ihm nicht so wichtig. Salomon bat um ein gehorsames Herz, um zu erkennen, was gut und böse ist. Herzensbildung statt altkluger Überheblichkeit – ich denke, damit kommen wir der Sache schon näher:

Wenn wir mit unserem Latein am Ende sind und es dennoch aushalten am Krankenbett, bei einem verzweifelten Freund, in einer schwierigen Lage – dann ist das von großem Wert für die Betroffenen. Wenn wir uns, unsere Erwartungen und Ansprüche nicht ganz so ernst nehmen – dann sind wir nicht die Dummen, sondern können unser Leben frei gestalten und uns überraschen lassen von seinem wunderbaren Reichtum. Wenn wir begreifen, dass wir nicht die Herrscher der Welt, sondern Gottes geliebte Kinder sind – dann bekommen wir den Blick für die wahren Verhältnisse, für das Wesentliche, für das Kostbare in jedem von uns.

Gott, deine Güte ist besser als Leben; meine Lippen preisen dich. So will ich dich loben mein Leben lang und meine Hände in deinem Namen aufheben. Das ist meines Herzens Freude und Wonne, wenn ich dich mit fröhlichem Munde loben kann.

Wenn ich Gott mit fröhlichem Munde loben kann – nicht weil mein Verstand mir dazu rät, nicht weil ich ein schlaues Buch gelesen habe oder ein hübscher Batzen Geld auf meinem Konto gelandet ist, nein: Wenn ich Gott mit fröhlichem Munde loben kann, weil mein Herz sich freut, schlicht und einfach, wenn es überfließt vor lauter Wonne: Dann ist das ein Erleben, das sich nicht steigern lässt und das dann wirklich jedem Vergleich spottet.

Wenn Sie alte Menschen nach ihrem Leben fragen, werden es nicht die vielen Jahre sein, von denen sie berichten. Auch nicht die Enkel, auf die sie natürlich stolz sind, oder die schönen Reisen, die sie vielleicht unternommen haben. Es werden oft Erfahrungen der Not und des Scheiterns sein, von denen sie berichten, vor allem aber der Liebe, die ihnen widerfahren ist.

Bei allem Irrsinn, der einem in der Welt begegnen kann, leuchtet da etwas auf, das wesentlich ist, das einen sagen lässt: Ja, es ist gut. Trotz allem ist es gut, ist das Leben sinnvoll, ist es auf eine merkwürdige, schwer zu beschreibende Weise schön und ungeheuer kostbar.

Unser Psalmbeter machte offensichtlich genau diese Erfahrung mit Gott, und Menschen damals wie heute teilen dieses Erleben. Diese Erfahrung von Liebe, von Nähe, die hinwegsieht über alles Trennende, die besser ist als alles andere: Weil unser Herz sich darüber freut. Diese Freude, diese Liebe und Nähe zeigt sich auch und vor allem natürlich in den Menschen, denen wir begegnen: In Menschen, die unsere Hoffnungen und unseren Glauben teilen, ihn mit uns auch zum Ausdruck bringen im Gebet, in Liedern, in guter Gemeinschaft.

Der Psalmbeter drückt aus, was ihm wesentlich ist: Gottes Güte, die, wie er sagt „besser ist als alles Leben“. Er wertet damit das Leben nicht ab, stellt es aber in einen größeren Zusammenhang: Auch die beste Lebensversicherung leistet nicht das, was Gott uns schenkt. Der Psalmbeter bestreitet auch nicht, dass es Zeiten des Zweifels gibt, Durst strecken, in denen Geduld gefordert ist. Aber in alldem sieht er sich in der Hand Gottes, die ihn durchhalten lässt, die ihn wieder frohlocken lässt, die so oder so einfach wesentlich ist für sein Leben.

Gott fragt nicht, was uns gelungen ist, was wir erreicht oder erkämpft haben. Er weiß um unsere Ängste, Unsicherheiten und Schwächen. Er geht mit uns, auch auf unseren krummen, steinigen und dunklen Wegen. Er kennt alle Niederungen des Lebens, und er hat sie überwunden – für uns, dass wir befreit werden zu einem Leben, das einzigartig und wertvoll ist.

Schöne Worte, aber schwer zu begreifen und zu akzeptieren? Mag sein. Aber mit unserem Leben ist uns ja auch ein gutes Stück Zeit geschenkt, dieser guten Botschaft nachzugehen:

Wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an dich, wenn ich wach liege, sinne ich über dich nach. Denn du bist mein
Helfer, und unter dem Schatten deiner Flügel frohlocke ich. Meine Seele hängt an dir; deine rechte Hand hält mich.


Ich gehe in dieser Welt mit meinen Mitmenschen vermutlich noch viele Wege, deren Verlauf und Ende ich nicht absehen kann. Ich werde mit meinem Glauben sicher noch einige Höhen und Tiefen durchschreiten, von denen ich nicht weiß, wie sie mein Leben beeinflussen. Ich werde noch manches gewinnen und manches verlieren. Doch entscheidend ist am Ende die Güte dessen, der mich ins Leben gerufen hat und mich auch künftig führen wird.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.