Auf historischen Gemälden begegnen sie oft: Hände, zum Gebet gefaltet – bei hohen Fürsten wie bei einfachen Bauern, bei Rittern und Mägden, Menschen jeden Standes und jeden Alters. Heute hingegen werden kaum noch aufwendige Gemälde gemalt, für die man obendrein lange stillsitzen oder stehen muss, sondern es werden viel lieber schnell mal „Selfies“ mit dem Handy geschossen – und da hat man nunmal die Hände nicht frei, kann sie also auch schwerlich zum Gebet falten!
Aber natürlich ist das nicht der einzige Grund: Früher war es hierzulande völlig normal, der Kirche und einer Gemeinde anzugehören. Ein äußerlich sichtbarer Ausdruck frommer Lebensweise wie eben die gefalteten Hände wurde erwartet, ja geradezu gefordert, wenn man „dazugehören“ wollte. Derlei Verbindlichkeiten, die manchmal auch zu Zwängen wurden, gibt es heute kaum mehr. Heute leben wir in vieler Hinsicht freier und unabhängiger:
Welchen Lebensstil ich pflege, welche Partei ich wähle, was ich glaube, denke und sage – das steht allein in meiner Entscheidung, die ich vor niemandem mehr groß rechtfertigen muss. Konventionen, also gesellschaftliche Standards, die gibt es natürlich immer noch, und wir tun gut daran, nicht allzu sehr davon abzuweichen.
Das Gebet, die gefalteten Hände – sie jedoch gehören nicht mehr unbedingt dazu: Sie begegnen uns nurmehr in geschützten Räumen: Z.B. in der Kirche im Gottesdienst, daheim beim Tischgebet oder in der ganz persönlichen Hinwendung zu Gott, für mich allein gesprochen oder in Gedanken formuliert. Dabei geht es nicht um Außenwirkung, und schon gar nicht um eine Form von Selbstdarstellung.
Was meint es dann, wenn Christen beten, was steckt dahinter? Ganz sicher schienen sich die Jünger Jesus, seine engsten Anhänger auch nicht zu sein, als sie ihn baten: „Herr, lehre uns beten!“ Nun ist die Bibel ja ein Buch von beträchtlichem Umfang mit vielen Seiten – manchmal geht es aber wie hier auch wunderbar kurz und knackig:
„Wenn ihr betet, so sprecht: Vater! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Gib uns unser täglich Brot Tag für Tag, und vergib uns unsre Sünden; denn auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig wird. Und führe uns nicht in Versuchung.“ Viele kennen dieses Gebet als sog. Vaterunser, wir werden es nachher wieder gemeinsam sprechen, dann allerdings in der bekannteren, längeren Fassung aus dem Matthäus-Evangelium (in der Übersetzung von Martin Luther).
Wo Menschen viele Worte machen, nicht zuletzt auch in der Kirche, wo jeweils vor und nach der Predigt noch Gebete gesprochen werden, da ist dieses Vaterunser immer eine gute „Erdung“, eine Besinnung auf das Eigentliche. Schauen wir uns das also einmal näher an!
Bei der Anrede „unser Vater“ sollten wir uns nicht unnötig aufhalten mit der Frage, was denn mit den Müttern sei: Die Worte stammen aus einer patriarchal geprägten Zeit, ihre Gedanken zielen jedoch nicht auf Aspekte wie männlich oder weiblich. Wie wir von unseren Eltern abstammen, so sehen wir auch unseren Ursprung in Gott als dem Schöpfer all dessen, was ist und was lebt. Und wie immer wir zu unseren leiblichen Eltern stehen mögen – hier geht es um das, wofür Eltern gemeinhin stehen: Um liebevolle Fürsorge, Zuwendung, um jemanden, der uns beisteht und hilft, wo wir nicht weiterwissen.
Etwas zu „heiligen“, das ist etwas völlig anderes als etwas zu „vergöttern“: Heiligkeit, das ist kein Rausch, die kann man spüren – vor allem in der Stille, wenn der Lärm verklungen ist. Im Schein einer kleinen Kerze, die die Dunkelheit erleuchtet. Heiligkeit erfährt man dort, wo einfache Worte großes Gewicht haben, und kleine Gesten die Welt verändern. Kein Pathos, kein Bombast, keine Show: Es geht um Ernsthaftigkeit und um Respekt, es geht um die ehrliche Wahrnehmung meines Standpunkts und dessen, was ich als größer erfahre als mich. Leise Töne vermögen das am besten zu beschreiben.
„Dein Reich komme“ – das kann ein Hilferuf sein, wo meine Welt mal wieder Kopf steht. Wo ihre Zumutungen schier unerträglich werden, dass alles andere nur noch besser werden kann. Gottes Reich meint aber noch mehr: Es ist der Ausdruck einer Verbindung von Gegenwart und Zukunft, von Vertrauen und Hoffnung.
Das eine kann nicht ohne das andere, aus beidem bezieht der Glaube seine Kraft. Wir leben hier und heute, und hier und heute gilt Gottes Zusage, hier und heute ist er mitten unter uns – doch wer will bestreiten, was alles Schreckliche um uns herum geschieht, woran so viel Mangel herrscht, dass es zum Himmel schreit? Gerechtigkeit und Friede, sie nehmen ihren Anfang in unserem Alltag: Vollendet werden sie allein bei Gott zu seiner Zeit, in seinem Reich. Ein Sehnsuchtsort und eine Zusage!
„Brot, Vergebung, Schuld, Versuchung“ – diese Bitten lassen sich zusammenfassen: All das ist es, wovon unser Leben, wovon die persönliche Biographie jedes einzelnen von uns hier und von jedem da draußen unweigerlich geprägt ist. Der Hunger nach Brot mag uns unbekannt geworden sein, der Hunger nach Anerkennung, Genugtuung, nach Befreiung von alten Lasten und dunklen Erinnerungen, er ist im Grunde immer da. Wir können ihn eine Weile verdrängen, doch am Ende braucht es mehr!
Und um genau dieses „mehr“ geht es im Gebet. Es ist ein Zugeständnis, zweifellos, ein Eingeständnis meines Ungenügens, meiner Endlichkeit und Begrenztheit, die ich vor Gott bringe – und damit über meinen Horizont hinaus. Sich wie der Baron Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können, das ist eine Illusion, das glaubt kein Christ.
Der heutige Sonntag Rogate, er steht zwischen Ostern, dem Fest der Auferstehung von den Toten, dem Fest des neuen Lebens, und Himmelfahrt, dem Fest, da Jesus Christus aus der tiefsten Tiefe wieder aufsteigt zu dem, der alle Macht in seinen Händen hält. Das klingt jetzt zugegebenermaßen sehr abstrakt, aber wir müssen hier auch kein theologisches Seminar absolvieren. Das Gebet genügt, und es vermag so viel, dass ihm der unbedingte Vorrang zu geben ist vor aller Bücherweisheit!
Hier geht es nicht um fromme Worte, nicht um „Ja und Amen“, wie Kinder es in früheren Zeiten brav zu ihren Eltern sagen mussten. Im Gebet stellen wir für uns einen Raum her, Gott zu begegnen. Unser Glaube, wie wackelig und unscheinbar auch immer, lernt im Gebet zu sprechen. Schranken, von denen uns so viele bewusst wie unbewusst das Leben schwer machen – hier sind sie aufgehoben:
Zorn, Zweifel, Ängste, Kämpfe, Dank, Klage, Lob und Bitte – alles hat im Gebet seinen Platz, und in allem erweisen wir Gott die Ehre – denn wir trauen ihm zu, dass ihm all das nicht gleichgültig ist, dass all das nicht das letzte Wort behält, dass er über den Augenblick hinaus uns leitet und bewahrt.
Zu beten, das kann und sollte nicht zuletzt auch eine Übung sein, damit wir in Grenzsituationen gut gewappnet sind: Mein ehmaliger Chef fand dafür einen passenden Ausdruck, als er mir davon erzählte, wie sein Vater starb: Als all das leere, hilflose Gerede wie „Kopf hoch, das Leben geht weiter“ an ihm vorbeizog, er aber nach langen Jahren das fast vergessene „Vater unser“ für sich sprechen konnte: Das war nach seinen Worten „wie ein warmer Mantel, den man um sich legt“, der einen schützt und der, wenn auch fremd geworden, wieder vertraute Sicherheit gibt.
Zu beten, das ist schließlich auch eine Kunst, die Übung braucht: „Hält man sein Herz nicht still“, schrieb Martin Luther, „so kann Gott nichts Gewisses hineingeben, genauso wenig, wie du einem Menschen etwas geben kannst, wenn er die Hand nicht stillhält.“ Stillhalten, stillsitzen – Sie haben sich an diesem Sonntag die Zeit dafür genommen, für Gott, für diese Gemeinschaft, so wie viele Menschen in den Jahrhunderten zuvor, so, wie es viele Menschen weltweit auch heute immer wieder tun.
Die Hände falten, das kann man durchaus auch heute noch, und sei es nur zu Übungszwecken. Und die Hände mal nicht frei zu haben für ein Selfie mit dem Handy, das kann sogar eine sehr befreiende Erfahrung sein!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
(Gottesdienst zum Stadtfest 700 Jahre Neuensalz)