Gewinnertyp

„Der perfekte Pfarrer“ – dies wäre vielleicht eine gute Überschrift für den Predigttext. Der perfekte Pfarrer oder die perfekte Pfarrerin, das ist nach gängiger Vorstellung jemand, der die Menschen dort abholt, wo sie sind, der sich in sie hineinversetzt, der ihre Sprache spricht.

Das heißt zunächst: Er oder sie muss Präsenz zeigen, sichtbar sein in der Öffentlichkeit, bei Hausbesuchen, auf Familienfeiern, bei Veranstaltungen. Er oder sie sollte sattelfest sein in der Bibel und traditionsbewusst, als Vorbild für die Frommen. Er oder sie sollte zugleich aber auch weltoffen, liberal und großzügig in seinen Ansichten sein, um den Zweiflern, den Suchenden und den Freigeistern Raum zu bieten in der Gemeinde.

Er muss also „allen alles sein“, um wenigstens einige für die Sache der Kirche, für das Evangelium zu gewinnen. Der perfekte Pfarrer, der muss auf jeden Fall Gitarre und Fußball spielen können, er muss ein ruhiger, starker Fels sein für die Alten und beweglich bleiben für die Phantasien und Ideen der Jungen. Und zuletzt, damit die Freude vollkommen sei, sollte er auch die finanziellen Nöte der Landeskirche verstehen und am Besten noch auf sein Gehalt verzichten.

Wer könnte solche Ansprüche erfüllen? Das kann doch nur jemand, der eine starke Überzeugung hat, so wie Paulus. Jemand, der fest verwurzelt ist in seinem Glauben, der frei und sicher steht und darum in so großer, ruhiger Gelassenheit handeln kann. Worauf er sich auch einlässt – ihn wirft nichts um, ihn bringt nichts aus der Geduld oder lässt ihn verzweifeln.

Ja, genau so wünscht man sich einen Pfarrer oder eine Pfarrerin. So ein Mensch ist der perfekte Botschafter des Evangeliums: Bei so einem Menschen werden Güte und Allmacht nachvollziehbare Begriffe. Schade eigentlich, dass es so wenige davon gibt – schade für die Gemeinden, deren vielfältiges Leben solcher Perfektion bedarf, und schade, weil man ohne solche Menschen eben nicht „alle und alles gewinnt“.

Genauso leicht, wie sich Ansprüche zusammenstellen lassen, genauso leicht ist es auch zu kritisieren; enttäuscht zu sein über das, was fehlt, was unerfüllt bleibt. Da ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, vom wenig perfekten Botschafter schließlich auch auf die Botschaft zu zielen: Das spricht mich nicht an. Das verstehe ich nicht. Da habe ich andere Vorstellungen. Wie leicht ist das gesagt, und wie vieles gibt uns Anlass, so zu denken und uns abzuwenden!

Das Prinzip des Paulus ist modern, man könnte sogar sagen „kundenorientiert“. Er hält nicht die Bibel in die Luft und wartet, dass die Verstockten sich irgendwann mit einem Male bekehren – nein, er baut Brücken und schafft Räume der Begegnung: Er lässt sich ein auf bestimmte Bräuche, auf spezielle Lebenssituationen und er schafft es, in all diesen Lebenslangen das Evangelium sichtbar werden zu lassen.

Darum war die Kirche immer gut beraten, wenn sie diesem Prinzip gefolgt ist: Die diakonische Bewegung, die Jugend- und Altenarbeit sind nur einige Beispiele davon, und der Kirchentag, der im nächsten Jahr in Bremen stattfindet, wird ein noch viel breiteres Spektrum aufzeigen: „Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette“.

Toleranz und Offenheit von Christen ist so auch kein gnädiger Akt der Freundlichkeit, kein schickes „Multi-Kulti“, sondern eindeutig ein Stück unserer Berufung: „Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predige!“ schreibt Paulus und meint damit alle Christgläubigen. Weh mir, wenn ich nur traditionelle und keine modernen Kirchenlieder singen lasse, auch wenn mir diese persönlich vielleicht nicht so gefallen. Weh mir, wenn ich meine Arbeit auf einen kleinen, mir angenehmen Kreis von Menschen beschränke und mich anderen versage. Weh mir, wenn ich Gott und dem Evangelium nicht Freiraum gebe, sich zu entfalten über meine Geschmäcker, Vorlieben und Vorstellungen hinaus!

Ja, wehe uns, uns, die wir keine perfekten Pfarrer und leider auch selber zu enge Herzen haben. Denn eines ist klar: Das Prinzip des Paulus mag einfach klingen, ist aber nur sehr schwer umzusetzen. Zweifellos, es gibt solche „Volldampf-Christen“, die sich beeindruckend engagieren, auf alles einlassen, alles daran setzen, um Menschen das Evangelium nahe zu bringen. Das ist ehrenwert, birgt aber auch eine große Gefahr:

„Die Christen müssten erlöster aussehen, um glaubwürdig zu sein“ befand bereits der Philosoph Friedrich Nietzsche. Und jeder, der sich in Kirche und Gemeindeleben engagiert, weiß um die Mühen, die damit verbunden sind. Da sind oft große Herzen und starke Nerven gefordert, es kostet viel Geduld und viel Zeit, die Interessen Einzelner wahr zu nehmen und wenn
möglich zu berücksichtigen. Und man kommt nicht umhin einzugestehen, dass es da auch Grenzen gibt: Grenzen der eigenen Leistungs- und Leidensfähigkeit, aber auch Grenzen des Machbaren und Grenzen, die man anderen setzen muss, um die Interessen der ganzen Gemeinde zu wahren.

Wer nur den Forderungen der Perfektion nachgeht, der überfordert sich bald. Das Ideal der Grenzenlosigkeit, der Wunsch, allen alles sein zu wollen, kann schnell zur Unglaubwürdigkeit führen. Ich kann weder Fußball noch Gitarre spielen, ich weiß um meine Vorbehalte gegenüber manchen Menschen und Milieus, ich weiß um meine persönlichen Vorstellungen und der Versuchung, diese auch „durchdrücken“ zu wollen. Meine Versuche, diese Fehler zu verleugnen, wären nur allzu bald durchschaut.

Wir können nicht so einfach aus unserer Haut, können uns nicht wie ein Chamäleon jeder Umgebung anpassen. Und ich glaube auch nicht, dass Paulus das getan hat: In der Gemeinde von Korinth, an die dieser Brief gerichtet ist, gab es viele unterschiedliche Kulturen, geistige Strömungen und abweichende Glaubensformen. Paulus hat sie alle ernstgenommen und ist darauf eingegangen, aber er konnte das nur tun, weil er sich selbst gehalten und getragen fühlte vom Evangelium:

„Ich bin frei, ich bin nicht unter dem Gesetz bzw. bin im Gesetz Christi.“ Was Paulus motiviert, was ihn befähigt zu diesem offenen Umgang mit anderen, das ist kein frommes Bemühen, kein Perfektionsstreben, und das sind auch nicht die vielen verschiedenen Forderungen, die aus der Gemeinde heraus an ihn gestellt werden. Was Paulus treibt und sicher macht, das ist die Erfahrung des Evangeliums am eigenen Leib, an die befreiende Zusage Gottes. Er gibt vor allem weiter, was er selber empfangen hat.

„Ein Wort für dich“, so steht es auf den Kästen der Marburger Mission, aus denen man sich Zettel mit Bibelversen nehmen kann. Gottes Wort an mich, das ist die Basis, um Gottes Wort auch anderen weiterzugeben. Gottes Wort an mich ist es, das mir sagt, welche Macht über uns allen steht und dass Ohnmacht und Versagen bei mir und meinen Mitmenschen nicht ausschlaggebend sind.

Nehmen wir nur das Wort aus dem Wochenpsalm: „Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben! Sie werden satt von den reichen Gütern deines Hauses, und du tränkst sie mit Wonne wie mit einem Strom. Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht.“

Nur aus diesem Blickwinkel gelingt es, das Evangelium zu predigen, sich auf andere einzulassen und einige zu gewinnen. Meine persönliche Meinung kann das nicht, auch meine größten Bemühungen können das nicht leisten, was Gott hier wirkt. Es ist sein Geschenk an mich, ihm zu vertrauen. Es ist seine Kraft, die mich hier und da über meinen Schatten springen lässt. Es ist die Freiheit eines Christenmenschen, sich nicht abhängig zu machen von Forderungen und falschem Ehrgeiz.

So ein Mensch ist der perfekte Botschafter des Evangeliums: Bei so einem Menschen werden Güte und Allmacht nachvollziehbare Begriffe – weil er nicht den Schöpfer spielt, nicht Versöhnung und Verständnis unter den Menschen erzwingen will, sondern all dies Gott überlässt, der ihn geschaffen, ihm vergeben und ihn erlöst hat.

Paulus bezeichnet dies als „Teilhabe am Evangelium“. Alle Christen sind solche „Teilhaber“, und zugleich auch „Teilnehmer“ an der Sache der Kirche. Und so ist es trotz manchem Ringen und Kämpfen auch eine große Gnade, dass die
christliche Kirche so eine bunte Gemeinschaft ist – sie trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass Kirche „allen alles“ sein kann, um Menschen für die Botschaft Christi zu gewinnen.

In unseren Gemeinden gibt es Fußballer, begnadete Musiker, Computerprofis und Handwerker, Traditionsbewahrer und Reformer zusammen mit vielen anderen, die Brücken bauen in vielerlei Richtungen – und alle auf ihre besondere Weise wertvolle Räume der Begegnung schaffen. Gott schütze diese lebendige Vielfalt – damit das Evangelium vielen Menschen, ob Jung und Alt, aus Ost oder West, Schwachen oder Starken eine gute Hoffnung und Heimat bleibt und damit ihm die Ehre gibt!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.