Gerneklein

Ich glaube, das wünschen wir uns alle: Kraft und Schwung, um Bäume ausreißen zu können, die Macht, Berge zu versetzen und als begabte Menschen, als Christen unübersehbar Großes in der Welt zu wirken. Schließlich gibt es so viel zu tun, und es geschieht so vieles, was wir gerne verhindern würden. Wir schlagen morgens die Zeitung auf und könnten auf Anhieb eine ellenlange Liste zusammenstellen. Ja, spricht der Herr, nur zu, es steht euch offen: Wenn ihr nur Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn, dann wäre euch nichts unmöglich!

Deutlicher lässt sich wohl nicht sagen, wie viel, oder besser: wie wenig Jesus vom Glauben seiner Jünger hält. Da ist anscheinend nichts, nichts, was sie auszeichnet, nichts, worauf sie bauen oder womit sie irgendetwas Besonderes leisten können. Und genau das hatten die Jünger wohl auch befürchtet, oder zumindest halb geahnt. Kurz zuvor erst hatte Jesus ihnen von der Vergebung gepredigt: „Wenn dein Bruder siebenmal am Tag an dir sündigen würde und siebenmal wieder zu dir käme und spräche: Es reut mich! So sollst du ihm vergeben.“

Das ist viel verlangt, kostet viel Überwindung und setzt ein sehr großes Herz voraus. Das war den Jüngern klar, und sie merkten, dass sie diese Kraft nicht hatten. „Stärke uns, stärke unseren Glauben“ – nur in einer solchen Stärkung sahen sie die Chance, den unmenschlich hoch scheinenden Anforderungen gerecht zu werden.

Diese Bitte der Apostel ist damit nicht unähnlich den Aufrufen von Vertretern aus Gesellschaft und Politik, gerade jetzt in der heißen Phase des Wahlkamps hören wir davon, lesen es auf Wahlplakaten: Mehr Zivilcourage ist da gefordert, mehr Familiensinn, mehr Verantwortung gegenüber der Umwelt. Keine Frage: Von alledem ist viel zu wenig zu sehen, von alledem kann es nie genug geben – schon gar nicht in einer Welt, wo viele so satt sind, dass sie kaum mehr die grundlegendsten Bedürfnisse an Würde und Menschlichkeit kennen.

Und so bitten auch wir: Stärke uns, stärke unseren Glauben – an das Gute im Menschen, an den Lohn der gerechten Tat, an die Ideale unserer Gesellschaft. Wer so seine eigenen Grenzen in den Blick nimmt, der zeigt doch eher Weitsicht und bewahrt sich und andere vor den fatalen Folgen der Selbstüberschätzung. „Herr, ich glaube – hilf meinem Unglauben“, wappne mich gegen den mächtig drohenden Zweifel, der alle Hoffnung raubt und mich lähmt.

Doch wie kann diese Hilfe, diese Stärkung aussehen? Jeder Politiker hat da sein eigenes Patentrezept, im Fernsehen klären „Super-Nannys“ über die Kunst des Familienlebens auf, und in den Buchläden finden sich immer mehr Ratgeber, deren Lektüre uns zu besseren Eltern oder Ehepartnern, Erfolgsmenschen und Lebenskünstlern machen soll. Neben all diesen bunten, aber eher geistlosen „Erste-Hilfe-Paketen“ gibt es auch andere, alte und bewährte Wege, den eigenen Glauben zu kräftigen: Pilgerreisen kommen z.B. wieder in Mode als eine Möglichkeit, sich innerlich neu ordnen und orientieren zu können.

Doch Vorsicht: Bäume ausreißen und Berge versetzen bleibt eine Übung, die auch dann nicht immer gelingt. Vorsicht auch vor Versuchen, die Größe des Glaubens überhaupt einschätzen zu wollen: Ist der Glaube groß, neben dessen frommen Übungen die Verpflichtungen des Alltags kaum noch Platz finden? Ist der Glaube groß, der mich leidenschaftlich zu meinen Mitmenschen predigen lässt, gefragt und ungefragt? Oder ist der Glaube vielleicht groß, der mich zum rastlosen Weltverbesserer und Tugendwächter macht?

Wie ist das mit dem Senfkorn gemeint? Ein Symbol für Winzigkeit, zweifellos. Aber doch ist ein Senfkorn z.B. etwas anderes als etwa ein Sandkorn, das trocken und ohne innere Kraft nichts weiter erwarten lässt.

Als wir noch in Nordsachsen lebten mit großem Pfarrgarten, da hat meine Frau mich immer getadelt, wenn ich im Frühjahr bündelweise Samentütchen aus dem Supermarkt mitbrachte und den Inhalt im Vorgarten verteilte – ich traute der Kraft dieser unscheinbaren Kerne einfach nicht, manche sind praktisch wie Staub! Ja, und im Sommer wurde es unübersehbar: Da blühte, wuchs und wucherte es in einem Maße, dass wir der bunten Pracht kaum noch Herr werden konnten.

Der Senfkorn-Glaube ist also nicht etwas, dessen wir uns schämen müssen. Das macht Mut. Es nimmt uns den Druck, unbedingt etwas Großes darstellen zu müssen als Christ. Und es erinnert uns an andere Beispiele, wo Gott sich im Kleinen zeigt: In einer Krippe in der Kleinstadt Bethlehem, in den Kindern, die Jesus uns als Vorbild hinstellt. In den Vögeln, die frei von Sorgen durch den Himmel ziehen, in den Lilien auf dem Felde, deren Schönheit alles übertrifft. Einfache, harmlose Dinge, in denen sich jedoch Großes widerspiegelt.

Unser christlicher Glaube erfährt es manchmal als ein Vorwurf, einfach und harmlos zu sein. Ich lasse das gerne gelten und freue mich nicht minder daran! Mein Glaube taugt ganz sicher nicht zu Heldenstücken oder sorgt für Schlagzeilen – aber für die kann ich mich auch nur begrenzt begeistern:

Die Bäume, die Menschen ausreißen, oder die Berge, die da versetzt werden – wie viel davon ist letztlich doch nur Schall und Rauch, wie vieles zieht Enttäuschung nach sich, wie viele Errungenschaften wurden viel zu teuer erkauft zu einem Preis, den letztlich andere zahlen – in anderen Ländern, aber auch unsere Kinder und Enkel.

Natürlich können wir nicht so einfach die Hand vom Pflug lassen, können uns nicht so einfach so aus unseren Verpflichtungen und Aufgaben lösen. Das kindliche Zutrauen und die Sorglosigkeit, von der vorhin im Evangelium die Rede war, sie ist ein Stück des verlorenen Paradieses, in das wir alleine nicht mehr zurückfinden. Doch unser Glaube, dieses unscheinbare Senfkorn, ist ein Stück aus jenem Garten Gottes, nach dem wir uns im Stillen sehnen.

Und manchmal, wenn wir es gar nicht vermuten, erwächst uns etwas Wunderbares daraus. Ich denke da an die Worte eines Arbeitskollegen: Mit Kirche jahrelang „nichts am Hut“, wie er sich ausdrückte, wurden ihm am Sterbebett seines Vaters die verschütteten Reste seines Glaubens auf einmal wieder bewusst „wie ein alter, wärmender Mantel“, der sich überraschend und tröstlich um ihn legte und ihn vom drückenden Gefühl der Verlorenheit befreite. Ja, es steckt erstaunlich viel Kraft in diesem Senfkorn, mehr Kraft, als wir besitzen und uns zutrauen!

Jesus hat den Glauben seiner Jünger nicht kleingeredet: Er hat mit dem Gleichnis deutlich gemacht, worauf es eigentlich ankommt. Das Senfkorn hat darum auch nichts gemein mit den Machbarkeitsutopien der Neuzeit: Es überdauert Regenfluten wie Dürre, lässt sich nicht ersticken von den Tiefschlägen unseres Lebens, von unseren Befürchtungen und Zweifeln. Im Senfkorn des Glaubens steckt jene wundersame Kraft, die das geknickte Rohr trotz allem nicht brechen und den glimmenden Docht nicht verlöschen lässt:

Das Senfkorn unseres Glaubens birgt in sich die Schöpferkraft, der sich alles Leben verdankt – denn es ist nichts weniger als die Wirklichkeit Gottes, die sich in ihm widerspiegelt, und die in den Schwachen mächtig ist. Lassen wir darum die Bäume dort, wo sie am besten wachsen, lassen wir die Kirche im Dorf und nutzen wir die kleinen, nicht weniger wichtigen Chancen, Kraft zu zeigen und weiterzugeben. So stärken wir den Glauben für uns andere, und geben damit Gott die Ehre.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.