Glaubensbiographien sind immer etwas Besonderes: Manche schildern eine dramatische Wendung, so wie hier, als sprichwörtlich „aus Saulus Paulus“ wurde. Andere beeindrucken durch ihre natürliche Selbstverständlichkeit, wenn heranwächst und blüht, wo gesät wurde, dem Beispiel des Senfkorns folgend. Und wieder andere entziehen sich Erklärungsversuchen, so spontan und wechselhaft kommt, geht oder verändert sich die Beziehung von Menschen zu Gott und der Gemeinde.
Diese bunte Vielfalt ist nicht etwa die Folge von 2000 Jahren Kirchengeschichte mit ihren unvermeidlichen Gewöhnungseffekten: Nein, vielmehr gibt es einfach kein immergleiches „Schema F“, wie Gott in das Leben von Menschen tritt – das wird schon hier in der Apostelgeschichte deutlich:
Direkt vor unserem Predigtabschnitt ist zu lesen von Philippus und dem Kämmerer aus Äthiopien: Ganz unspektakulär wird da geschildert, wie jemand aus einem anderen Kulturkreis einfach aus Interesse und Wohlwollen sich die christliche Lehre erläutern und taufen lässt – und weiterzieht.
Ist das wirklich noch ein vollgültiges „Bekehrungserlebnis“, eine „Umkehr“? Nichts spricht dagegen, und nichts gibt Grund zur Annahme, dass das Wunder des Glaubens hier unbedeutender und weniger wert, weil weniger aufsehenerregend ist!
Die Bekehrung des Paulus freilich war ein Politikum: Er zählte zur theologischen Prominenz jener Tage – ein Ruf, den er später bekanntlich auch wiedererlangte. Er war Schüler des Gamaliel, eines hochgelehrten Pharisäers mit bemerkenswerter Weitsicht: Als die Apostel vor den Hohen Rat geladen und angeklagt wurden, riet er seinen Kollegen: „Lasst sie gehen! Ist’s von Menschen, wird’s untergehen, ist’s aber von Gott, könnt ihr sie nicht vernichten!“
Doch wie so oft führt Glaubensstolz nicht unbedingt zu Gottvertrauen – und Paulus wurde zum eifrigsten Verfolger der jungen Christen, ließ Männer und Frau fortschleppen und ins Gefängnis werfen, und „schnaubte mit Drohen und Morden gegen die Jünger“.
Menschlich und unmenschlich zugleich: Menschlich, weil er brannte für das, was ihm wichtig, ja heilig war. Glaubensfragen lassen Paulus nicht kalt, sie sind für ihn nicht unverbindliche Theorie, er weiß um ihre Bedeutung für das Leben. Unmenschlich, weil er sich dabei zum Richter macht über andere Menschen und über das, was ihnen wichtig, heilig und lebensentscheidend ist.
Handwerker wissen aus Erfahrung: Nach „ganz fest“ kommt „ganz locker“ – das Gewinde hält dem Druck nicht stand, das Material ermüdet und gibt nach. Man muss wieder von vorn anfangen und diesmal mit Bedacht vorgehen. Auch Paulus wird zurückgeworfen: Herunter vom hohen Ross auf den harten Boden der Tatsachen. Das Licht vom Himmel war ihm zu hell, die Stimme, die zu ihm sprach, noch unbekannt: „Herr, wer bist du?“
Ich bin Jesus, den du verfolgst – in all den Männern, Frauen und Kindern. In all deinem Eifer, der dir und anderen schadet, und der Gott keine Ehre gibt. Ich bin Jesus, der dir in den Weg tritt, der deine forschenden Blicke verdunkelt und dich hilfsbedürftig macht wie ein Kind. Ich bin Gott, dem du dienen wolltest – und den du jetzt neu kennenlernen wirst.
Auf der Spur der fliehenden Christen stolpert Saulus über die Spuren des Gekreuzigten und Auferstandenen. „Steh auf und geh:“ Damit beginnt für ihn ein neuer, ganz eigener Weg.
Gottesbegegnungen, ob sie nun erhebend sind oder niederschmetternd wie bei Paulus, sie gehen über unseren vertrauten Erfahrungshorizont hinaus. Paulus Gefährten bekamen nicht mit, was da genau mit ihm geschah. Sein Damaskus-Erlebnis ist eine persönliche Erfahrung, sie vollzieht sich im Verborgenen – wohl darum berichtet Paulus später nur in Andeutungen davon. Sein Erleben ist nicht Maßstab für andere, seine Berufung eine ganz eigene.
Eine besondere Berufung hatte auch Hananias, den Gott zum geschlagenen, blinden Paulus sendet: Ein schwerer Auftrag! Dem Verfolger seiner Glaubensgeschwister entgegenzugehen und Gottes Segen zuzusprechen, das erfordert Überwindung. Die Angst vor einem Misserfolg ist nur allzu verständlich, das Scheitern einer Mission keine seltene Erfahrung. Und so wird die Begegnung von Paulus und Hananias zu einem doppelten Schlüsselerlebnis: Beide lernen, Gott zu vertrauen – bei dem einen als radikale Neuentdeckung, beim anderen als stärkende Vergewisserung des Glaubens.
Beides bereitet den Boden für Gottes gute Botschaft, und weiteres kommt hinzu: Erbauung, Mahnung, Trost – Paulus wird schon bald all diese Facetten beherrschen und ausbauen, wenn er in den Gemeinden predigt, auf Missionsreisen geht und Briefe schreibt, die uns als biblische Zeugnisse bis heute beschäftigen. Er war es, der Jesu Worte und Wirken weit über Israel hinaus bekanntmachte: Mag Petrus auch der Fels sein, auf dem die Kirche erbaut ist, so war Paulus einer der Architekten!
Nun, ich bin kein herausragender Theologe, kann nicht reiten und hätte auch nicht die Kraft und Ausdauer des Paulus für ständige Auseinandersetzungen. Meine Biographie hat zwar auch an einigen Stellen Brüche, Kratzer im Lack und unschöne Dellen, aber ohne dass sich nun Großes oder gar Gott darin offenbart.
An Paulus hat Gott ein Exempel statuiert, wie es kommen kann, wenn Gott ins Leben tritt: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“, schreibt er später im ersten Brief an die Korinther – und wir können dankbar sein für dieses Beispiel des gewandelten Erfolgsmenschen und ersten nachösterlichen Apostels.
Er wird wieder wichtiger werden für unsere heutige Kirche: Wir sind gottlob nicht verfolgt wie so viele andere Glaubensgeschwister anderswo in der Welt. Aber wer die Beerdigungen mit der Zahl der Kindertaufen bei uns vergleicht, merkt schnell: Wir werden weniger. Wir können nicht mehr bauen allein auf die jungen Familien, die es im Übrigen auch nicht leicht haben in einer säkularisierten Umwelt und einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft.
Begegnungen mit Gott bei Erwachsenen – davon berichtet aus eigener Erfahrung meine Frau, das durfte ich einige Male im „kirchenfreien“ Nordsachsen erleben, das ist sicher auch einigen von Ihnen nicht unbekannt. Und nicht zuletzt ist die Bibel auch randvoll mit solchen Begegnungen: Die Hirten auf dem Felde. Die Weisen aus dem Morgenland. Die zahllosen Randfiguren, die Gott sieht und zu sich führt, ebenso wie der ungläubige Thomas oder die Emmaus-Jünger. Sie alle durften in ganz unterschiedlichen Phasen ihres Lebens Gott erfahren, ihr Credo ist vielstimmig und darum schön!
In Damaskus steht eine uralte christliche Kirche an der Stelle, wo Paulus zu Boden ging und Gottes Wort neu hörte. Sie ist steinerner Zeuge neu entstandenen Glaubens, und umringt von alten und neuen Trümmern einer Stadt, heimgesucht von Kriegen alter und neuer Zeit. Diese gnadenlose Zerstörung spricht nicht die Sprache von Umkehr und Bekehrung: Dafür gibt es bessere Formen, die viel zu tun haben mit menschl. Nähe, Vergebung und Vertrauen.
Der Kirchenvater Augustin überliefert uns eine Begebenheit, über die er zu Glauben fand: Auch er wurde einer der „Großen“, aber auf fast schon kitschig-anrührende Weise – ein Kind soll es gewesen sein, auf dass er stieß und das ihm eine biblische Schrift gab mit den Worten „nimm und lies“.
Manchmal geht ein Riss durch die vertraute Welt, damit unsere Augen wieder Licht sehen, und manchmal genügt ein kleiner Fingerzeig: Der Geist findet immer seinen Weg zu den Menschen, versuchen wir nicht wie Saulus, ihn zu zwingen und zu lenken. Folgen wir Gottes Spuren, lassen wir das „Schnauben“ – wagen wir den Glauben, wie Gott ihn uns schenkt!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.