Fraglos

Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust! So klagte schon Dr. Faust bei Goethe: Einsicht in eigene Begrenztheit lehrt uns Vorsicht und Zurückhaltung, Tatendrang und Wille zur Veränderung treiben uns vorwärts.

Ich habe beruflich viel mit Personalverantwortlichen zu tun. Auch dort übt man die Kunst geschickter Gratwanderung: Auf der einen Seite wird der Gemeinschaftssinn betont, gemeinsame Ziele und Erfolge, vor allem das Team zählt. Auf der anderen Seite der Appell an die Eigenverantwortung: Nicht aufhalten lassen! Auch mal was wagen! Entfalte dein Potential!

Die Absicht dahinter ist klar: Auf Arbeit geht es weniger um persönliche Selbstverwirklichung, sondern um die Erreichung von Unternehmenszielen. Dafür reicht der bloße „Dienst nach Vorschrift“ jedoch nicht aus, Motivation und Ehrgeiz einzelner bringen den Laden erst so richtig in Schwung! Die Kurzformel lautet daher: Setz dich mit all deinen Kräften ein – aber bitte immer auch für andere, für deine Kollegen und unsere Kunden.

An dieses Prinzip wird dann gerne mit dem berühmten Kennedy-Zitat erinnert: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage vielmehr dich selbst, was du für dein Land tun kannst“. Was ich tun kann, und was ich tun möchte, das hängt allerdings von der jeweiligen Zielstellung ab – und da gibt es mitunter gewaltige Unterschiede!

Wir haben das vor fünf Jahren bei der Flüchtlingsdiskussion gesehen, und erleben es gerade wieder bei den sog. Corona-Demonstrationen, wo sich neben die Frage nach den angemessenen Schutzmaßnahmen noch ganz andere Ansichten und Meinungen mischen: Da wird dann auch Grundsätzliches, bis eben noch selbstverständlich Erscheinendes in Zweifel gezogen oder gleich die ganz große Weltrevolution ausgerufen.

Ähnliche Spannungen erleben wir auch in der Kirche: Für die einen geht es viel zu langsam vorwärts mit Digitalisierung, neuen, offenen Strukturen und Verkündigungsformen; andere wiederum sehnen sich nach der guten alten Zeit, nach vertrauten Ritualen und festen Positionen.

Das Tragische ist, dass man bei solchen Fragen schnell emotional wird – eben weil sie einem wichtig sind. Das Schlimme ist, dass dadurch die Fronten schnell verhärten und irgendwann dann der Respekt und die letzten Gemeinsamkeiten verloren gehen. Damit ist nichts gewonnen und nichts erreicht.

Was ist unser Auftrag? Wozu sind wir berufen – wenn nicht als große Propheten wie Jeremia, so doch als Christen in der Kirche und in der Gesellschaft? Was können wir tun, wo haben wir Verantwortung?

Fragen wir nicht, was die Kirche für uns tun kann, sondern was wir für die Kirche tun können – dann kommen wir schnell wieder runter von der „großen Politik“, die andere zu erledigen haben, und finden zurück zum „Tagesgeschäft“, das wir aus unserer Position heraus viel eher steuern und beeinflussen können!

Wir Deutsche meckern ja gerne und viel, und so gab es auch sehr viel Kritik am Verhalten der Kirche bei den ersten, fraglos schmerzlichen Einschränkungen. Ich will das hier überhaupt nicht kommentieren, sondern stattdessen lieber den Blick lenken auf die vielen Menschen, die – meist unbemerkt im Hintergrund – zugleich doch so vieles Neues in diesen schwierigen Zeiten möglich gemacht haben:

Von der Einkaufshilfe über Videoandachten, Telefondienste, Mittagsmusik vom Kirchturm, Seelsorge im Internet. Da hatten wir es teilweise natürlich auch mit Menschen zu tun, die bislang für unser Gemeindeleben weniger relevant waren: Die einfach mal „reingeschnuppert“ haben und vielleicht neugierig wurden.

Was das langfristig für die Wahrnehmung von Kirche, für die Begegnung mit Gott und dem Glauben bedeutet, lässt sich heute nur schwer abschätzen. Aber gut und wichtig waren diese Aktionen auch als ein Aufbruch in ungewohntes Terrain zweifellos:

Wichtig ist schließlich nicht nur, was wir als Einzelne oder als Gemeinde davon haben, sondern auch, was für andere nützlich, hilfreich, wohltuend ist – was sonst meint Nächstenliebe, wenn nicht ab und zu auch mal auf andere und deren Bedürfnisse zu blicken? Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen!

Frage dich selbst, was du mit dem Geschenk des Glaubens anstellen willst. Frage dich selbst – das ist schon mal ein guter Anfang, doch beißt sich die Katze dabei meist in den Schwanz: Innere Unsicherheiten, Zweifel, Hin- und hergerissen vom Sollen und Wollen, jene „zwei Seelen“ in der Brust – das kann ich für mich allein nicht lösen.

Dann frage andere Menschen, was ihnen nottut, was sie sich wünschen, was sie von mir erwarten – und kläre für dich, ob das richtig und angemessen ist, und handele danach. Dann zieht unser Glaube schon etwas weitere Kreise!

Aber ein weiterer Weg ist für mich persönlich der entscheidendste: Frage Gott, was er von dir will. Prüfe genau, ob da nicht zu viel vom eigenen Wunschdenken mitschwingt, und dann frage ihn nochmal. Geht mit dir ins Gericht, und geh ins Gebet oder in die Stille vor Gott. Denk an frühere Zeiten, und spanne die Hoffnung aus wie ein Segel, damit Gottes Geist dich und dein Leben bewegt.

Berufung – das ist so ein großes Wort! Ich bin froh, dass die Welt nicht voller Propheten ist, die mit überhitzten Gemütern Unruhe verbreiten. Ich finde mein Glück meist schon in kleinen Dingen, und begegne Gott an unscheinbaren Orten. Und sollte es einmal anders kommen, dann weiß ich jetzt schon, dass es nicht mein Können und Vermögen sein werden, die mich lenken, sondern Gott allein.

Der Prophet Jeremia, die Jünger Jesu, Petrus und Paulus – sie alle waren buchstäblich von Gott Bewegte, aber keine Helden im klassischen Sinne. Ihr stärkster gemeinsamer Wesenszug war ihr Vertrauen auf Gott, ganz gleich auf welche Wege und zu welchen Menschen er sie führte. Es war nicht immer Gewissheit, die dahinterstand, so wenig wie beim Beter unseres Eingangspsalms: „Gott, du bist mein Gott, den ich suche!“

Ihn zu suchen – in dem, was mir gegeben ist, in den Menschen, mit denen ich lebe, in den Rätseln und Wundern dieser Welt: Das ist ein Auftrag, den ich gerade noch so annehmen kann, und der mich reizt trotz aller inneren und äußeren Widerstände.

„Fürchte dich nicht“ – davon hören wir oft in der Bibel, meist dann, wenn es spannend wird: In der Weihnachtserzählung, zu Ostern, und nicht ohne Grund auch bei Berufungsgeschichten. Fürchte dich nicht – das sagt hier nicht irgendein unverbesserlicher Zweckoptimist, sondern kein geringerer als Gott selbst, und stellt sich damit stützend und schützend an unsere Seite:

Fürchte dich nicht; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der Herr. Seien auch Sie begleitet und behütet auf Ihrem Weg durch diese so besonderen Sommermonate!

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.