Genau heute vor einem Jahr und einer Woche wurde unsere Enkelin geboren: Die Freude war natürlich groß, wie die Erleichterung darüber, dass Mutter und Tochter wohlauf sind und auch der Vater tapfer standgehalten hat! Vorangegangen war ebenso eine nicht geringe Vorfreude in den Monaten zuvor: Die gespannte Erwartung und der Wunsch, das kleine neue Leben dann recht bald selber sehen und in den Arm nehmen zu können.
Wenn eine junge Familie sich neu gründet, dann gibt es immer eine doppelte Irritation: Ich höre noch meinen Dresdner Schwiegervater mit Erstaunen feststellen, dass nun ja bislang „wildfremde“ Menschen einander verbunden seien! Und dann ist noch etwas ungewohnt: Die jungen Leute, eben noch Kinder, haben mit einmal ihre ganz eigenen Verpflichtungen und Vorstellungen.
Der Umgang damit will gelernt sein, von allen Beteiligten: Die große Freude und Herzlichkeit, sie rechnet gewiss nicht mit spitzem Bleistift – aber was spricht denn dagegen, dass man gleich mal zu Besuch kommt, dass Weihnachten natürlich wieder im Elternhaus gefeiert wird usw. usf.?
Eins haben meine Frau und ich unserem Sohn und seiner Frau von Anfang an empfohlen: Bei aller Liebe – feiert Weihnachten für euch! Findet eure Formen, entwickelt eure Traditionen und achtet genau darauf, was euch gut und angemessen erscheint! Wir sind für euch da, wenn ihr uns braucht – aber wir wollen nicht Teil einer unwürdigen Zerreißprobe sein, wer wen wohl am liebsten hat, und dies dann durch ständige Präsenz beweisen müssen!
Diese Freiheit zu gewähren ist nicht immer leicht. Dass 400 km Distanz etwas anderes sind als 40 km zu der anderen Familie, das begreift unser Verstand, doch im Herzen tut es trotzdem manchmal weh. Im Hinterkopf wird mitgezählt: Jetzt waren die schon so oft dort, und nur ein paar Mal hier bei uns. Liebe schenkt, so heißt es, und manchmal schenkt sie auch Verzicht um der guten Gemeinschaft willen. Denn was ist die Alternative?
Vor langer Zeit haben wir angefangen, neben Schwibbogen, Bergmann und Engel usw. auf einem Schrank auch Grußkarten aufzustellen, die wir in der Adventszeit erhalten. Waren es zunächst nur zwei oder drei, wurden es mit den Jahren immer mehr: Von guten Freunden, nahen und fernen Verwandten – mittlerweile reicht der Platz kaum noch!
Von unseren Eltern, die wir regelmäßig besuchten, fanden sich solche Weihnachtsgrüße erst spät. Stattdessen gab es zuvor Briefe, die mit klagendem Unterton vor allem Bedauern ausdrückten: Irgendwas war immer fremd, irgendwas schien immer zu fehlen, und irgendwie waren wir immer daran schuld!
Die Gemeinde in Philippi hat auch Post bekommen. Paulus hat ihnen geschrieben; er kann leider nicht persönlich erscheinen, denn er sitzt mal wieder im Gefängnis. Vieles verbindet ihn mit den Menschen dort:
Als eine der ersten christlichen Gemeinden auf europäischem Boden hatte er sie bei seiner zweiten Missionsreise gegründet, und konnte stolz sein auf ihre Entwicklung – die Mitgliederzahlen wuchsen, Strukturen und Ämter bildeten sich, Frauen wie Männer übernahmen Verantwortung und Leitungsaufgaben. Mehr als ein Grund zur Freude – doch Paulus hat wie immer natürlich auch einen Blick für die Eintrübungen und Schwierigkeiten bei Kirche!
„Einige predigen aus Neid und Streitsucht“, so schreibt er in den Kapiteln davor, „einige in guter Absicht, andere aber aus Eigennutz“. Wer nun aber eine der typischen Standpauken des Paulus erwartet, der irrt: „Was tut’s?“, so heißt es dann: „Wenn nur Christus verkündet wird auf jede Weise, zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber! Habt ihr doch denselben Kampf, den ihr an mir gesehen habt.“
Wo ist er geblieben, der scharfsinnige Theologe, der sonst von sich reden macht durch harte Worte, der klare Grenzen zieht zwischen dem, was der Verkündigung und dem Glauben dient und dem, was rundweg abzulehnen, ja zu bekämpfen ist?
Ein merkwürdig milder Brief ist das, den Paulus aus der Dunkelheit seiner Gefängniszelle schreibt. Er hätte allen Grund verbittert zu sein: Euch da in Philippi, Euch geht’s ja gut – und was ist mit mir? Wer ist hier der bessere Glaubenszeuge und Märtyrer? Doch nichts davon, kein Bilanzieren, keine Enttäuschung, kein Selbstmitleid spricht aus seinen Worten:
Er sieht sich der Gemeinde verbunden über die gemeinsame Erfolgsgeschichte hinaus. Er hat wohl mehr als eine Ahnung davon was es heißt, die vielen Interessen, Erfordernisse und Sachzwänge von vielen Menschen irgendwie unter einen Hut bringen zu müssen, Umwege zu gehen, um dem Ziel treu zu bleiben und nicht in Sackgassen zu geraten. Die dunklen Wolken, die da über Philippi mal mehr, mal weniger dichter aufziehen, auch sie sind eine gewaltige Herausforderung – da will er nicht noch eine weitere Last auflegen und seinerseits fordern.
„Die Menschen wollen nicht Advent, sie wollen gleich Weihnachten“, sagte kürzlich jemand zu meiner Frau. Nun, das zu wollen steht ja jedem frei – aber viel spannender ist doch die Frage: Was macht uns aus, was verbindet uns, wenn Wege, Auswege und Perspektiven verschlossen sind? Wenn Gemeinschaft nicht auf die Weise gelingt, wie wir es gerne hätten? Wenn Fragen im Raum stehen, auf die wir leider keine schnellen und angemessenen Antworten finden?
Gemeinsam warten, hoffen, Glauben wagen über die großen und kleinen Unterschiede hinaus – wenn einer Gemeinde das mit allen unbestritten schwierigen und manchmal schmerzhaften Spannungen gelingt, dann darf man wohl von einer guten, gesegneten Gemeinschaft reden! Ohne lieblose Gleichmacherei, ohne geisttötenden Kaderterror, sondern als Ergänzung in dem Wissen, in vielem miteinander verbunden und in vielem aufeinander angewiesen zu sein, schon der eigenen Grenzen wegen.
„Freuet euch im Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe!“ Das ist mehr als ein Aufruf, das ist ein Bekenntnis. Freuet euch – das heißt auf lateinisch: Gaudete.
Eigentlich ist es der 3. Adventssonntag, der diese Bezeichnung trägt und zu dem der Predigttext darum auch besser gepasst hätte: Aber was sind schon abstrakte Zahlen! Tiefe und ehrliche Freude geht über so etwas hinweg, sie feiert das Leben, sie reißt den Himmel auf für herrlichste Hoffnung, steht dem zur Seite, der sich am Rande und verlassen wähnt. Sie taugt für gute wie auch für schlechte Tage.
Aus dem Philipperbrief spricht eine Freude, die weiß, wovon sie spricht: Ein erster, zumindest flüchtiger Blick war ihr vergönnt auf das Kommende, so wie ein neugieriges Kind mitbekommt, wenn die Eltern die Bescherung am Heiligabend vorbereiten. Da sind ungewohnte Geräusche, es tut sich was: „Warte noch, du wirst schon sehen!“
Warten in der Gegenwart, hoffen und Ausschau halten nach einer Zukunft, die wir uns nur bruchstückhaft vorstellen können – das macht uns zum Teil einer großen Gemeinschaft, weit auch über den christlichen Glauben hinaus. Das verbindet uns mit vielen Menschen überall in der Welt – in einer Welt zumal, die nicht nur und erst recht nicht immer von adventlichem Freudenglanz überstrahlt ist.
Freuet euch im Herren allewege: Jochen Klepper schrieb viele Kirchenlieder; eines auch zu diesem Text. Vor 80 Jahren, am Vorabend des 3. Advent, ging er mit seiner Familie in den Tod. Zu groß war der Druck der Verfolgung, die Gefahr der Verhaftung und Ermordung geworden. Seine Lieder auch zur Advents- und Weihnachtszeit sind Glaubenszeugnisse eigener Art, und berühren darum besonders.
Freuet euch im Herren allewege, steht im EG 239: Es ist ein Hochzeitslied, geschrieben im vollen Bewusstsein für die Wechselfälle des Lebens, für die Gnade, derer wir im Umgang miteinander tagtäglich bedürfen, und für die Freude, die nicht zurück, sondern nach vorne blickt und nicht weniger als das Kommen Gottes erwarten darf.
Dem Text im Philipperbrief folgend heißt es darum in Strophe 3: „Sorget nichts! Ihr kennt den Wundertäter! Er weiß alles, was ihr hofft und bangt! Der Mensch tritt vor Gott als rechter Beter, der im Bitten schon voll Freude dankt.“
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.