Die Zeiten sind vorbei, in denen die Menschen sich ernsthaft Gedanken darüber machten, wie sie Gott beeindrucken, vielleicht gar bestechen können. Solche Vorstellungen gelten als primitiv und sind vielleicht noch bei den einen oder anderen Naturvölkern zu finden: Spätestens seit dem Streit um den Ablasshandel aber gehören derartige Opferrituale nicht mehr in unsere Vorstellungswelt. Unsere moderne, zivilisierte Welt setzt andere Maßstäbe.
Und diese Maßstäbe sind auf den ersten Blick gar nicht so verschieden von dem, was der Prophet Micha im Predigttext fordert. Gerade das Liebesgebot können wir in vielfältigster Form verwirklicht sehen: Das Einstehen für Schwache, die Unterstützung Notleidender und der Einsatz für gesellschaftliche Anliegen ist heute für viele Menschen selbstverständlich.
Manchen von ihnen geht es dabei nicht einmal um die Frage, ob das etwas mit Gott und dem Glauben zu tun hat – ihr Antrieb zum Guten ist rein menschlich-humaner Natur. Sie wollen sich darum auch nichts mehr sagen lassen, weder von einem Propheten noch vom Pfarrer auf der Kanzel.
Die Menschheit hat sich entwickelt, hat die alten Bilder und Vorstellungen überwunden und hohe Ideale verwirklicht in der Gesellschaft, im Sozialen wie in der Politik. Einige Philosophen waren daher der Ansicht, dass der Gottesglaube an sich auch nur eine Vorstufe, etwas Primitives ist, das irgendwann, vielleicht schon in unserer Zeit abgelöst wird durch eine gereifte, moralisch erwachsene Gesellschaft, die keiner Erinnerungen und Ermahnungen mehr bedarf.
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“ – das klingt tatsächlich nach dem elterlichen Zeigefinger, etwas von oben herab, ganz nach dem Motto: Überleg doch noch mal! Hast du auch nichts vergessen? Und wie bei Eltern spricht auch der Predigttext nicht nur von Liebe und Freundlichkeit, die man üben soll, sondern verlangt daneben pflichtschuldigst Treue („das Wort halten“) und sogar „Demut“: Ein Begriff, der nun wirklich kaum noch aktuell ist. Ein Faktor allerdings auch, der in so mancher Rechnung fehlt und daher zu falschen Ergebnissen führt:
Denn was gut und böse ist, das wussten schon Adam und Eva, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten. So gesehen, war die Entwicklungsgeschichte des „Guten“ bereits in denkbar kurzer Zeit abgeschlossen! Was Adam und Eva damals fehlte, waren Treue und Demut – und wenn ich da in den Geschichtsbüchern blättere oder mich in der Gegenwart umsehe, dann fällt die Bilanz auch heute noch ziemlich enttäuschend aus.
Was gut ist, das meinen so viele zu wissen: Seit Ewigkeiten stehen selbsternannte Weltverbesserer in dauerndem Wettkampf, und doch sind die Ergebnisse zweifelhaft, brüchig, unvollkommen. Seit Ewigkeiten schreiben die Menschen sich das Wahre und Gute auf ihre Fahnen, doch regiert im Stillen und uneingestanden die Berechnung, wird dem flüchtigen Vorteil meistens der Vorzug gegeben gegenüber hehren Zielen.
Ohne Treue und Demut bekommt das Gute leicht eine Schlagseite: Selbst „Brandopfer und tausend Widder“ zu opfern ist dann zu wenig, weshalb der Prophet Micha unbeeindruckt hinter diese Fassade schaut und tatsächlich wie ein strenger Vater fragt: Hast du auch nichts vergessen?
„Ja, was denn noch??“ mag man ausrufen angesichts dieser Ermahnung. „Reicht es nicht schon, dass ich mich von meinem Gewissen plagen lasse? Dass ich mir Gedanken mache und wenigstens einen kleinen Anteil zu einer besseren Welt beisteuere?“ Ja, wie viel Freizeit sollen wir noch für Ehrenämter opfern, wo schon jetzt kaum noch Zeit für uns und die Familie bleibt! Wofür sollen wir noch Geld spenden, wo doch immer mehr Hilfsprojekte und Aktionen aufgerufen werden und alles teurer wird! Warum soll das und all das andere, was wir tun, nicht endlich auch mal reichen?
Zu viele Menschen fühlen sich selbst schon als Opfer; unfrei und eingeengt von ihren Verpflichtungen. Zu viele leiden unter dem Druck hoher Erwartungen, die an sie gestellt werden, zu viele warten vergeblich auf Bestätigung und Anerkennung ihres Tuns. Dieser Eindruck, zu kurz zu kommen im Leben, führt nur zu Verbitterung und Vereinsamung. Das ist nicht gut.
Ich erinnere mich an eine Gemeinde, wo nach dem Gottesdienst am Ausgang immer ein Tisch stand, mit fair gehandelten Produkten zu ziemlich stolzen Preisen. Die jungen Leute, die da verkauften, verstanden es meisterlich, durch fragend-mahnende Blicke eine Verlegenheit zu schaffen, die dann so manches Portemonnaie öffnete – auch meines, zwei- oder dreimal. Doch später habe ich mich eigentlich nur noch geärgert, geärgert über dieses unausgesprochene „Du musst!“ dieses moralinsauren Angebots:
Es hat mir das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts der Nöte in der Welt nicht wirklich genommen, ich kam mir albern vor mit meinen kleinen Einkäufen, die mir trotzdem bald zuviel wurden und deren vorwurfsvoller Beigeschmack mich am allermeisten störte. Es hat mir nicht gefallen, als pflichtschuldig dazustehen und solchermaßen Gutes zu tun, um mich vor den Augen anderer als rechter Christ zu erweisen. Nein, weder Brandopfer noch tausend Widder, weder handgeflochtene Bastkörbchen noch Dritter-Welt-Kaffee sind es, die über mein Seelenheil entscheiden: Ich denke, dass die Zeiten des Ablasshandels, des Missbrauchs von Wissen und Gewissen wirklich vorbei sein sollten.
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: Nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ In dieser Aussage steckt doch eindeutig mehr als die Forderung, uns in bemühten Guttaten zu erschöpfen! Zu dem, was gut ist, gehört doch untrennbar auch Gott – nicht nur als der Fordernde, sondern auch als der Handelnde und als der Gebende. „Gottes Wort“, „dein Gott“ – darin drückt sich doch auch eine Zuwendung aus, die uns von einer großen Last befreit.
Gott will keine materiellen oder moralischen Opfer, die nicht von Herzen gehen. Gott will, was gut und heilsam ist – für uns und unseren Nächsten. Und damit dies gelingt, haben wir sein Wort: Seine Zusagen, die uns Mut machen und aufrichten, und seine Gebote, die uns auf dem Weg halten und Orientierung ermöglichen. Denn verwirrend ist die Welt nicht erst heute, das war sie schon zu Zeiten Luthers wie zu Zeiten des Propheten Micha. Aber wer immer an seiner Zeit, an seiner Umwelt leidet und wer verstehen will, was „Not tut“ und woher wir Hoffnung beziehen können, hat hier, in Gottes Zusagen und Geboten seinen tragenden Grund und Ausgangspunkt.
Hier wird dem Menschen nichts Unmenschliches abgefordert, hier tritt Gott selbst als Mensch in Jesus Christus in die Mitte des Geschehens. Hier richtet er mit dem Kreuz das große Zeichen der Versöhnung auf – Versöhnung und Verwandlung, die jeder einzelne vor ihm erfahren darf und die jeden einzelnen von uns hineinnimmt in eine wundervolle Gemeinschaft. Hier wächst etwas Neues, hier ist uns Gott nahe und berührt uns beim Beten, in der Musik, im Zuhören und stille werden in Ehrfurcht und Dankbarkeit.
Gottes Wort halten, das meint hier: Es festhalten als etwas, das uns gemeinsam erinnert an seine Macht, die uns entbindet von der viel zu großen Last, alles allein meistern, regeln und richten zu müssen. Gottes Wort macht uns wieder bewusst, wozu wir eigentlich berufen sind, es richtet unseren Blick auf den Nächsten. Und wohl jeder unter uns weiß, wie ungleich schwerer es sein kann, Frieden mit unserem Nächsten als Frieden für die Welt zu erbitten. Mit Gottes Hilfe mag es uns gelingen!
Demut, das meint hier: Die Grenzen des Nächsten wahrzunehmen, wie auch die Begrenztheit eigenen Denkens und Handelns verstehen zu lernen. Wieder zu lernen, sich führen zu lassen von Gott, sich ihm anzuvertrauen, um nicht gebunden zu bleiben an den eigenen Horizont. Demut meint nicht, sich klein zu machen, damit Gott größer dasteht, sondern es meint, vertrauensvoll und getrost Gottes Werk dort fortzuführen, wo man in die Welt gestellt ist. Dort, inmitten der Gemeinde und unter seinen Schutz gestellt, erfahren wir als Kinder Gottes jene Freiheit, die der Schlüssel dazu ist, um wirklich „gut“ zu sein und „gut“ zu leben.
Der Prophet Micha will diese Freiheit wieder bewusst machen, die aus Gottes Wort und aus Ehrfurcht vor Gott und unserem Nächsten erwächst. Diese gute Freiheit war es, die in der Reformation wiederentdeckt wurde, und auch heute gilt es immer wieder aufs Neue, den Ursprung und das Ziel dieser christlichen Freiheit neu zu entdecken.
Reformationstag, Buß- und Bettag: Nicht ohne Grund stehen diese beiden Feiertage so dicht beieinander und laden uns ein, uns rückzubesinnen auf das, was wirklich gut für uns ist und was darum der Herr von uns und für uns fordert.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.