„Das Leben geht weiter“ – wie oft haben Sie diesen Satz schon gehört oder womöglich auch selber gesprochen? Nach schmerzhaften Verlusten, wenn wir Abschied nehmen mussten von Vertrautem, von Orten und Menschen, die uns lieb geworden waren.
Das Leben geht weiter – sicherlich gut gemeint, in der besten Absicht zu trösten klingt es beinahe bedrohlich, weil es ja zunächst und vor allem erstmal ein Leben „ohne“ sein wird: Geprägt von Mangelerfahrung, von Verzicht. Da ist jetzt eine Lücke, wir können uns kaum vorstellen, was für ein Leben das jetzt werden soll. Wir müssen umdenken, uns umorientieren, neu einrichten, damit es wenigstens irgendwie weiter geht, das Leben. Zeit und Kraft wird es mindestens kosten!
Es ist keine Sache des Verstandes, keine Anstrengung des Intellekts, die hier Abhilfe schaffen könnte: Getrennt zu sein, wo viel Nähe war, nicht aufhalten zu können, dass sich etwas Grundlegendes ändert – das bringt wohl jeden Menschen aus dem Tritt und macht jedem von uns Angst.
„Es ist gut“, sagt Jesus zu seinen Jüngern. Die Trauer angesichts des bevorstehenden Abschieds macht sie stumm. „Es ist gut“, macht euch keine Sorgen, oder biblisch formuliert: Fürchtet Euch nicht. Daraus spricht ein Sich-Fügen in das Unabänderliche, es ist ein Friedensschluss mit dem Leben, vielleicht auch mit den Umständen, mit denen man gehadert hat, an denen man sogar hier und da verzweifelt ist.
Es ist gut, wenn ein Mensch in diesem Frieden gehen und auch anderen ein wenig von diesem Frieden mitgeben kann – wenigstens am Ende. Etwas von sich weitergeben wollte auch Jesus seinen Jüngern, und er weiß: Geld und gute Worte allein genügen da nicht, auch wenn Jesu „letzte Worte“ im Johannes-Evangelium ganze fünf Kapitel umfassen. Aber jetzt ist es gut: Jesus hat bereits viel gesagt, hat vorgelebt und gezeigt, wie Menschen miteinander umgehen sollen, um gut zu leben und Frieden zu halten.
Fraglos wäre noch immer vieles zu sagen, aber: „Ihr könnt es jetzt nicht ertragen“. Denn unsere Kraft hat Grenzen, in Trauer und Schmerz stehen wir schon mit dem Rücken an der Wand, können nicht noch mehr aufnehmen, verarbeiten, bedenken. Unser Herz blutet, unsere Gedanken finden nirgends richtig Halt. Jetzt bitte keine Worte mehr!
Vor 40 Tagen feierten wir Ostern, das Fest der Auferstehung – nächsten Sonntag ist Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes. Heute, nach Himmelfahrt, am Sonntag Exaudi stehen wir also an einer Schwelle – mal wieder, wie wahrscheinlich schon oft im Leben!
Es ist gut, wenn ein Mensch bei einer großen Veränderung, einem Übergang loslassen und wieder neu beginnen kann. Es ist gut, wenn ein Mensch am Lebensende im Frieden gehen kann. Es ist gut, wenn ein Mensch nach einem Verlust und nach der Zeit, die er oder sie braucht, weitergehen kann und Ziele hat. Und tatsächlich gibt es Abschiede, die uns bei allem Bedrückenden auch etwas mitgeben, uns etwas mitnehmen lassen.
Das Erbe, das Jesus seinen Jüngern vermacht, taugt nicht zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Hier ist für jeden und jede ohnehin mehr als ausreichend vorhanden, denn es besteht vor allem in einer Aufgabe, in einer Sendung:
Wenn es Euch wertvoll war, sagt Jesus, was ihr von mir gehört, mit mir erlebt und erlitten habt, dann verschließt euch nicht, sondern gebt es weiter. Zieht los, redet darüber, lebt es, so gut ihr könnt – und wo ihr es nicht gut könnt, vertraut auf mich. Ihr seht mich nicht mehr, könnt mich nicht fassen, aber von mir zu hören und von mir zu lernen – das bleibt euch nach wie vor.
Jesus spricht vom Heiligen Geist, von der Gegenwart Gottes nicht nur in der Schöpfung, nicht nur in der Botschaft der Menschwerdung, des Kreuzestodes und der Auferstehung, sondern von Gottes Gegenwart im Denken und Handeln von uns Menschen – von mir, von Ihnen, von Ihrem Sitznachbarn/-nachbarin, von denen, die draußen unterwegs sind.
Nun ist Begeisterung nicht gerade das, was wir gemeinhin so ausstrahlen oder erleben als Einzelne oder als Gesellschaft: Auch in den Nachrichten sind es eher Sorgen, Konflikte und Unsicherheiten, von denen die Welt voll ist – und die Älteren unter uns werden bestätigen, dass das nicht erst seit gestern so ist, sondern schon seit gefühlten Ewigkeiten.
Die Bibelkundigen unter uns wissen zudem, dass der Geist Gottes „weht, wo er will“ – er wirkt Wunder manchmal an den seltsamsten Stellen und wird manchmal schmerzlich vermisst ausgerechnet da, wo wir ihn uns sehnlichst wünschen, ja selbst in der Kirche!
Nun, vielleicht will er gerade nicht? Vielleicht können wir ihn auch gerade nicht ertragen, denn wenn er kommt, der Geist der Wahrheit, so ist das nach Jesu Worten ja durchaus mit Nebenwirkungen verbunden:
Mit so mancher Sünde lässt sich schließlich gut leben, solange sie nicht als solche erkannt und angegangen wird. Mit der Gerechtigkeit ist es auch so eine Sache: Hauptsache, ich genieße Vorteile und muss nicht zurückstecken. Ist Frieden wirklich nur Ungestörtheit, und wirklich immer gut auch dann, wenn er schon mehr als faulig riecht?
Jesus nahm Rücksicht auf die Jünger. Er kannte ihre Grenzen, über die sie selbst so oft stolperten. Doch „allgemeine Menschenschwäche“ ist nicht das „Trost- und Losungswort“, an das sie sich halten sollen: Der Trost, der mit dem heiligen Geist gegeben wird, er gilt nicht denen, die missmutig dasitzen und warten, bis alles wieder wird wie früher – wo angeblich alles besser war, zumindest wenn man vieles andere ausblendet.
Nach Ostern, nach Himmelfahrt, nach Pfingsten: Da wird renoviert, d.h. erneuert – manchmal im Kleinen, oft Entscheidenden, manchmal im ganz großen Stil. Jesus kam nicht in die Welt und ging nach Golgatha, damit wir stumpf unsere geistige Armut verwalten und uns an ihr Genüge sein lassen. Er sendet uns nicht den Tröster, damit er uns beisteht beim Klagen und Schreiben langer Wunschlisten. Gottes Beistand bedeutet neue Kraft und Ermutigung:
Das Leben geht weiter, die Bewegung, die mit Gottes Wort an Abraham und die Propheten begann, in Jesus Christus neue Hoffnung schenkte geht weiter und damit Gottes Auftrag an uns. Zusage und Aufgabe – beides verbindet sich mit der christlichen Taufe, beides haben Sie bejaht damals bei Ihrer Konfirmation, beides rufen wir als christliche Gemeinde uns immer wieder ins Gedächtnis, um darin Trost und Bestärkung zu finden.
Die schmerzlichen Lücken, die offenen Fragen – vieles davon bleibt uns erhalten, doch wir müssen nicht wegschauen, nicht vor ihnen davonlaufen, uns nicht geschlagen geben. Gottes Geist reicht über unsere Hoffnungen hinaus, lässt etwas spürbar werden selbst dort, wo wir nicht begreifen. Gottes Geschenk an uns, der Trost des Glaubens, ist nicht billig und nicht weniger als ein Wunder.
Das Leben ging weiter, damals für die Jünger. Es geht weiter für Sie und mich, heute, morgen und an so manchen Wendepunkten des Lebens. Doch es ist gut, denn Gott geht mit uns weiter.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus – Amen.