„Das macht man nicht!“ Diesen Satz haben wir wohl alle als Kinder oft zu hören bekommen. Unsere Eltern, unsere Lehrer und unsere Mitmenschen haben uns deutlich gemacht, wenn unser Verhalten unangemessen war:
Man spielt nicht mit dem Essen, man kippelt nicht mit dem Stuhl, man fragt höflich, bevor man sich etwas nimmt. Das menschliche Miteinander ist darauf angewiesen, dass der Alltag geschützt ist vor der Unvernunft, der Gedankenlosigkeit Einzelner. Darum stellt man Regeln auf und zieht der Freiheit gewisse Grenzen.
Es sollen sich doch alle wohl fühlen und sicher leben – dieser Leitgedanke kennzeichnet die Normen gesellschaftlichen Lebens: Wer sich ihnen widersetzt, wird ermahnt oder gar ausgeschlossen. Und dennoch haben immer wieder Menschen den Mut aufgebracht, sich Normen zu widersetzen, wenn diese allzu beengend und lebensfeindlich wurden: Ihre Sehnsüchte und ihr Streben nach Gerechtigkeit führten dazu, alte Strukturen aufzubrechen und neue Freiheiten zu erkämpfen. Als Protestanten und als Zeugen der Wiedervereinigung sind uns solche Ideale sicher nicht fremd!
Aber nach allen großen Umbrüchen wie auch nach der Wende zeigte sich, dass die neugewonnenen Freiheiten auch Risiken in sich bergen. Sichergeglaubtes fällt mit den Grenzen gleichfalls dahin, ursprüngliche Ideale und Ziele verlieren sich in unüberschaubaren Freiräumen, einst Unerhörtes scheint plötzlich Normalität: War die Liebesaffäre eine Politikers vor Jahren noch ein echter Skandal, muss man sich heute schon etwas Besonderes einfallen lassen, um Schlagzeilen zu machen. Und wo ein Übermaß an Freiheit herrscht, geraten auch schützende Grenzen leicht in Vergessenheit.
Diese Gefahr sieht auch Paulus, wenn er an die Gemeinde in Korinth schreibt: Korinth war seinerzeit eine pulsierende Großstadt, viele Kulturen trafen aufeinander, es gab nichts, was es nicht gab – die dunklen Seiten eingeschlossen. Rotlicht-Milieu, Kriminalität, krumme Geschäfte gehörten dazu, aber offenbar hatten auch aus diesen Kreisen Menschen in die Gemeinde und zum christlichen Glauben gefunden.
Was gibt man denen auf den Weg, die aus diesen Kreisen kommen? Und wie schützt man zugleich jene, die eher behütet leben, vor den damit verbundenen Versuchungen und Gefahren? Einen klassischen Satz kennen wir ja schon: „Das macht man nicht!“. Sicher die einfachste Lösung: Man wendet den Blick ab, man verschließt sich diesem Teil der Welt und zieht eine schützende Mauer um sich. Manchmal geht es nicht anders.
Paulus geht jedoch in eine andere Richtung, indem er die christliche Freiheit in ihrer Grenzenlosigkeit vielmehr noch betont: „Alles ist mir erlaubt“. Hier ist kein Gesetz um des Gesetzes willen, kein starres Prinzip, keine Norm, die außerhalb jeder Diskussion steht. Nein, im Gegenteil: Wer als Christ Vergebung erfahren hat, wer gerecht gesprochen ist aus Gnade, wer Gottes Macht über sich weiß, der entwickelt eine gewisse Gelassenheit gegenüber menschlichen Eitelkeiten, Fehlern und Schwächen:
Ich betrachte mich nicht länger sorgenvoll im Spiegel, ob alles recht ist – ich weiß mich in meiner ständigen Anfälligkeit und allzu häufigen Achtlosigkeit von Gott dennoch gnädig angenommen und schöpfe daraus Vertrauen, Hoffnung und Trost.
Das ist das Geheimnis der christlichen Freiheit, über das sich Nichtchristen oft nur wundern: „Ihr als Christen müsstet doch…“, hören wir da manchmal, oder „Ihr als Christen dürftet doch eigentlich gar nicht…“. Aber wir müssen gar nichts und dürfen alles, solange wir es vor Gott verantworten können. Vor Gott und meinem Gewissen, allerdings heißt das zugleich auch: Vor meinem Nächsten.
Hier klingt bereits eine besondere Qualität der christlichen Freiheit an: Sie ist anders als die Freiheiten, die für gewöhnlich „beansprucht“ werden: Wie etwa die Freiheit derer, die zufälligerweise die richtige Überzeugung und Weltanschauung haben – und denen deswegen alles erlaubt sein muss: Zum Beispiel die Unterdrückung anderer!
Da gibt es die Freiheit derer, die sich erst noch voll entfalten und alles ausprobieren müssen – da muss es erlaubt sein, sich über die Interessen und Bedürfnisse anderer hinwegzusetzen! Und in der Urlaubszeit gibt es schließlich noch die Freiheit vieler Touristen, die ja für alles bezahlt haben – und da kann man sich ja dann auch alles erlauben! Es gibt viele Beispiele dafür, welche Tyrannei von einer falsch verstandenen Freiheit ausgehen kann, und noch mehr Beispiele für die fatalen Folgen.
Kein Wunder also, wenn Freiheitsaposteln mit Skepsis begegnet wird – und Grund genug, dem christlichen Verständnis von Freiheit weiter nachzugehen. Ein Christ ist nicht frei, weil er es sich verdient hat oder sein Glauben ihn besonders befähigt. Ein Christ ist frei, weil er „befreit“ wurde: Befreit werden kann jemand, der gefangen ist, der keine wirkliche Auswahl an Möglichkeiten hat, der festgelegt und unbeweglich ist. Die Bibel spricht daher auch von „Umkehr“ und „Erlösung“, die der christlichen Freiheit vorausgehen.
Diese Befreiung nimmt sehr genau in den Blick, was den Menschen alles bindet: Es sind neben viel gutem Willen auch viele Unzulänglichkeiten und undeutliche Gefühle, die unser Handeln bestimmen. Ängste, Kränkungen, Wut über uns selbst und andere geben allzu oft die Richtung vor, unser Leben droht ausweglos um sich selbst zu kreisen, zu reinem Selbsterhalt und trostlosem Selbstzweck zu geraten. Es ist ein ernüchterndes Bild des Menschen, das uns hier begegnet: Gerne würden wir es ausblenden, nimmt es uns doch viel von unserem Stolz und unserer Zuversicht in eigene Fähigkeiten.
Doch diese Macht, der wir hier offenkundig unterliegen, diese Macht bleibt eben nicht unerkannt und übermächtig. Vor Gott betrachtet erscheint sie genauso klein wie wir Menschen, vor Gott verliert unsere Selbstsucht die Gewalt über uns, vor Gott sind wir frei.
„Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten“ (Psalm 139) – „alles ist mir erlaubt“, ja, vor diesem Hintergrund, vor dieser alle Grenzen überschreitenden Zuwendung der befreienden Kraft Gottes, was soll uns da noch unmöglich sein?
Und wenn nicht unmöglich, so fällt es uns doch deutlich schwerer, der Verlockung der eingangs beschriebenen „falschen Freiheiten“ zu erliegen: Ideologische Zwänge, Selbstverwirklichung, „was kostet die Welt“ – darin kommen Bedürfnisse zum Ausdruck, die wir als befreite, erlöste Christen eigentlich nicht mehr haben sollten.
Auch für diese Freiheit gibt es zahlreiche gute Beispiele: Christliche Vereine und Hilfsdienste fragen nicht nach Konfession, Weltbild und Überzeugung der Notleidenden, sondern handeln aus eigenem Selbstverständnis – und das seit über tausend Jahren übrigens, als Sozialdienst noch für lange Zeit ein Fremdwort war. Und wer sich in Gemeinde und Ehrenamt, im Besuchsdienst und Gesprächskreisen einbringt, dem erschließt sich die Welt oft schneller und deutlicher als auf sonstigen Wegen. Wer dem Konsumdruck entfliehen, teilen und helfen kann – der weiß, um wie viel bereichernder und erfüllender dies ist.
Unser christliches Handeln ist daher auch kein Opfer, kein schmerzvoller Verzicht auf die schönen, die wertvollen Dinge des Lebens. Wir sollen uns an dieser Welt erfreuen, aber nicht von ihr beherrscht werden. Wir sollen Salz der Erde und Licht der Welt sein, und das können wir nur, indem wir Bindungen eingehen, mitmachen und uns nicht auf vermeintlich sicheren Posten zurückziehen:
Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient mir zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen – diese Erkenntnis des Paulus schließt unsere Erfahrung, die respektvolle Wahrnehmung unseres Nächsten und das Bewusstsein ein, dass wir befreit vor Gott gleichwohl verführbare und schwache Menschen sind. Wir sind teuer erkauft, weil wir einmal befreit schnell meinen, jetzt könne uns nichts mehr gefangen nehmen, weil wir meinen, selber Macht gewonnen zu haben, selber unser Leben sicher lenken zu können.
Wir fallen schnell wieder in diesen alten Trott, darum brauchen wir immer wieder die Zuwendung Gottes: Um zu erkennen, ob mein Leben und Streben mir und anderen noch zum Guten dient. Und so ist es eine Lebensaufgabe, die uns im Glauben geschenkte christliche Freiheit zu ermessen, immer wieder neu zu entdecken, zu nutzen und auszufüllen. In ihr wird nicht weniger greifbar als ein Stück der Herrlichkeit, zu der Gott uns berufen hat.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.