Es lässt sich nicht länger leugnen: Die Stunde ist da. Zeit der Trennung und des Abschieds. Wie gut, wenn es Rituale gibt in solchen Momenten, die uns sprachlos und hilflos machen! Wie gut, wenn uns Worte gegeben sind, die wir einfach nachsprechen können und die doch ausdrücken, was uns nicht über die Lippen kommen will.
Die Not macht nicht viele Worte, in tiefster Verzweiflung und Todesnähe kreist alles nurmehr um zwei Dinge: Meine große Furcht – und deine Zusage, mein Gott! Wenn das, was ich doch so sehr will, nicht möglich ist – so geschehe dein Wille.
Mein Wille und Gottes Wille, hier fallen sie auseinander, sie liegen über Kreuz. Sie geraten in eine Spannung, die zum Zerreißen ist – eine übergroße, unüberbrückbar scheinende Kluft tut sich da auf.
Dreimal betet Jesus so. Rituale leben aus der Wiederholung, damit die Worte irgendwann den natürlichen Widerstand überwinden. Dreimal geht er danach zu seinen engsten Wegbegleitern:
Einen schweren Gang tut man nicht mit viel Gepäck, und auch nicht mit der großen Menge. Die meisten Jünger hatte er zuvor zurückgelassen, sie sollten einfach nur warten. Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus – nur diese drei, so lesen wir, wollte er bei sich haben in dieser schweren Stunde.
Nicht jeder versteht. Nicht jeder erträgt. Nicht jeder weiß, wann es Zeit ist zu reden oder besser zu schweigen. Jesus weiß, dass er den Weg, der vor ihm liegt, alleine gehen muss. Umso wichtiger, noch einmal, ein letztes Mal etwas vertraute, herzliche Nähe zu spüren! Auch wenn die drei Jünger dabei im Hintergrund bleiben – die reine physische Präsenz hilft dennoch, selbst dort, wo man auf sich allein gestellt ist. Jemanden auf diese Weise begleiten zu dürfen ist durchaus ein Vertrauensbeweis, eine große Ehre – und eine große Last.
„Wenn es ans Sterben geht“, schrieb Luther seiner lieben Käthe, „dann kann ich nicht bei dir sein und du nicht bei mir“: Nüchterne Worte, aber keineswegs lieblos. Eine bittere Realität, doch nicht ohne Trost: Luther will seiner Frau mit diesem Brief sagen, was sie erwarten darf, und was nicht: Ihre gemeinsamen Wege, in diesem Leben, dieser Welt, sie trennen sich hier.
Die Liebe möchte so sehr festhalten, sie vermag am Ende aber auch gehen zu lassen. Sie nimmt den Schmerz an und überwindet die innere Lähmung. Sie scheut weder Tränen noch Trauer, und um Trost ist ihr sehr bange. Abschied und Trennung so auf sich zu nehmen und auszuhalten, darin liegt ihre einzigartige Größe und ihre besondere Würde.
Dort, im Garten Gethsemane, wird es allmählich dunkler. Zwischen Himmel und Hölle sehen wir Jesus beten. Bald wird er seine Würde verlieren: Judas, einer seiner Jünger, will ihn aus der Reserve locken, will sehen, wie der Gottessohn die Herrschaft in der Welt übernimmt – und verrät ihn darum an die Hohepriester.
Aus dem Sohn Gottes machen sie als wäre nichts geschehen einen Gotteslästerer, aus dem Lehrer und Arzt einen falschen Verführer. Das Volk kann nur tatenlos zusehen, seine Jünger fliehen oder verleugnen ihn. Er steht für sich. Sagt nur noch wenig Worte. Der Schatten der Einsamkeit, Verlassenheit und Gottesferne um Jesus, er wird immer größer.
„Mein Gott, mein Gott – warum hast du mich verlassen“, so lautet der Klageruf so vieler, die auch in diesen Tagen im Schatten sitzen, vor Furcht gelähmt, jedem Halt und jeder Heimat beraubt sind. Warum schlafen die Jünger? Warum verstehen sie nicht und wachen, auch um ihrer selbst willen? „Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt!“
Doch Furcht und Ohnmacht drücken jeden von uns nieder, früher oder später. Schmerz und Trauer erschöpfen uns maßlos, wie bei einem steilen Anstieg schwinden da alle Kräfte.
Ich hätte gerne mehr getan, als vor 20 Jahren das Leben unseres zweiten Sohnes und viele Jahre später das Leben meines Vaters auf der Intensivstation zu Ende ging. Ich hätte gerne mehr getan für unseren guten Freund in Nordsachsen, der seine Frau zum Sterben nach Hause geholt hatte und sie bis zum letzten Atemzug unter großen Mühen pflegte.
Ich würde gerne mehr tun für die verfolgten Christen, die Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten oder aus der Ukraine, die Kinder im Hospiz oder die Alten in den Pflegeheimen. Weiß ich, welch äußere und innere Not sie alle leiden? Wie kann ich, wie können wir da schlafen!
Ein wenig tröstet mich, wenn ich daran denke, wie mir vor 20 Jahren geholfen wurde, wie ich da Beistand erfuhr: Durch den Kollegen, der mich und unseren großen Sohn damals einfach in den Alltag zurückholte, indem er uns abholte, um wieder mal gemeinsam in den Zoo oder auf den Spielplatz zu gehen. Nicht etwa so, „als ob nichts wäre“ – sondern gerade weil etwas gewesen war, das es nun anzunehmen und gemeinsam zu tragen galt.
Mein Vater starb Heiligabend – und ich nahm meine Mutter kurz darauf einfach mit nach Plauen, und wir feierten dann tatsächlich nachträglich Weihnachten am Tannenbaum mit Bescherung und allem drum und dran: Auch mit gemischten Gefühlen natürlich, aber in der Vergewisserung, dass niemand von uns in so einer Zeit allein sein muss.
Verbundenheit und Nähe – man kann sie nicht einfordern wie ein moralisches Prinzip oder ein Recht, auf das nur laut genug zu pochen ist: Beides wächst langsam mit der Zeit und im Verborgenen – wie tiefe Wurzeln, die einen großen Baum dann auch im Sturm standhalten lassen. Oberflächlich ist davon, von dieser großen Kraft nichts zu sehen.
Der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen – er war eine Verlockung damals im Paradies, und doch sind seine Früchte uns so schlecht bekommen. Seither sehen wir klarer, und sehen uns nackt, beschämt und weit entfernt von aller Vollkommenheit. Den zweiten Baum, den Baum des Lebens – er ist ein Sehnsuchtsort geworden, unerreichbar für uns. Allein Gott kann uns wieder den Weg dorthin weisen und führen.
Unser Weg mit Jesus, die Nachfolge, die Gemeinschaft im Glauben, auch sie stößt da an eine Grenze und lässt uns innehalten: Sein bitterer Kelch wird nicht geteilt, den Weg ans Kreuz geht er allein, sein Tod und seine Auferstehung sind das Zeichen, dass Gott selbst es ist, der für uns die Wege geht, die wir nicht gehen könne, und dass er uns bei allen Abschieden und Verlusten verloren gibt – auch nicht, wo wir nur noch das Dunkle sehen, es uns die Sprache verschlägt oder Erschöpfung überkommt.
Siehe, die Stunde ist da: Gottes Wille geschieht. Jesus geht seinen Weg, damit wir wieder heimfinden und Frieden finden. Nach bangem Warten kommt die Taube wieder und lässt uns schauen, was wir glauben: Der Himmels steht offen, verlorenes Leben wird wieder neu!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.