„Erzählen sie uns doch mal von sich“ – ein typischer Satz in Bewerbungsgesprächen! Nur die ganz Arglosen werden eine solche Aufforderung als echtes Interesse an der eigenen Person missdeuten und plaudern dann munter aus dem Nähkästchen. Tatsächlich geht es bei dieser Frage vor allem darum, Bewerbern auf den Zahn zu fühlen:
Hat er oder sie klare Vorstellungen von dem, was er oder sie machen möchten? Ist er oder sie zielstrebig oder eher planlos? Gelingt es ihm oder ihr, das Erlernte und Erreichte angemessen rüberzubringen – also ohne falsche Bescheidenheit, aber auch frei von Überheblichkeit?
Für so eine Frage, für so ein Gespräch, an dessen Ende meist eine folgenreiche Bewertung steht, bereitet man seine Antworten am besten gut vor: Man legt sich genau seine Worte zurecht, überlegt, was unbedingt Erwähnung finden soll und was besser hinter den Kulissen bleibt.
Paulus schreibt der Gemeinde in Rom. Er war als Missionar schon viel herumgekommen, in den kleinen Provinzen wie in den großen Metropolen Ephesus oder Korinth. Er verstand sein Handwerk, traf oft den richtigen Ton für einfache Menschen wie auch für das gehobene Bildungsbürgertum. Das ersparte ihm keine Auseinandersetzungen:
Einige Briefe schrieb er aus dem Gefängnis, andere geben Zeugnis von Streit und heftigen Angriffen, von Erschöpfung und Selbstzweifeln. Ein Spaziergang waren seine Missionsreisen selten, aber das wusste er und nahm die Herausforderung immer wieder aufs Neue an.
„Erzählen sie mal von sich“ – das ist gar nicht so einfach, zum einen, weil Selbstdarstellung nicht jedem liegt, und zum anderen, weil das gar nicht so scharf zu trennen ist von Erlebnissen, die wir gehabt haben oder von Menschen, die uns auf den Weg gebracht haben, wo wir kaum sagen können: Ja, hier, das war allein meine Leistung, das trägt ausschl. meine Handschrift!
Paulus schreibt der Gemeinde in Rom, um von sich zu erzählen, um sie einzustimmen auf den, der schon viele Gemeinden gegründet oder zumindest besucht hat und nun endlich auch im Zentrum der damaligen Welt, im alten Rom vorstellig werden will. Er war der Gemeinde dort gewiss kein Unbekannter, dafür hatte er gesorgt:
Paulus war das, was man durchaus als „schillernde Persönlichkeit“ bezeichnen kann: Stark und sicher im Auftreten, schwach in Hinblick auf Gestalt und Gesundheit. Er, der Spätberufene, der vom Christenverfolger Saulus erst in nachösterlicher Zeit zu Paulus, dem Nachfolger wurde, er hatte keine Scheu, sich trotz dieses historischen Makels mit dem altehrwürdigen Petrus, dem „Fels“ der noch jungen Kirche anzulegen.
Er, der hochgelehrte jüdische Schriftgelehrte, hatte auch keinerlei Scheu, mit tief verwurzelten Traditionen zu brechen, um auf jene zuzugehen, die er für Gottes Wort, für das Evangelium und den christlichen Glauben gewinnen wollte.
Vieles, was christliche Theologie prägt, verdankt sich seinen Briefen und seinen Gedanken zu zentralen Glaubensinhalten. „Der Gerechte wird aus Glauben Leben“ – dieses Prophetenwort aus dem Alten Testament wird bei ihm zum Grundstein christlicher Rechtfertigungslehre, und wird Jahrhunderte später einem Martin Luther und noch vielen anderen Ausgangspunkt sein für Rückbesinnung und Reformen, auf deren Errungenschaften man durchaus stolz sein kann.
Stolz – auch das ist eine Eigenschaft, die man Paulus nicht absprechen kann, ebenso wenig wie uns Protestanten oder Christen ganz allgemein. Und das ist ja ein ganz berechtigtes Empfinden: In einer Gemeinschaft, wo ich mich zuhause fühle, angenommen bin und Wichtiges für mich entdecke, da bin ich gerne, darin gehe ich auf, damit identifiziere ich mich.
So froschkalt möge bitte niemand sein, allem gleichmütig gegenüberzustehen und jede freudige Begeisterung zu unterdrücken: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht!“ – wie käme ich dazu? Nun, das ist vor allem eine Frage der Perspektive:
Wenn ich auf eine Kirche schaue, die neben manch anderem viel zu lange die Augen verschlossen hat vor dem Missbrauch Schutzbefohlener – dann hilft es wenig, wenn das besonders häufig in der katholischen Kirche, in Sportvereinen oder in den Familien vorkam.
Wenn ich auf ein Land schaue, von dem verheerende Kriege und millionenfaches Morden ausging – dann hilft es wenig, wenn andere Nationen auch reichlich Dreck am Stecken haben.
Wenn ich auf mein Leben schaue, wo Versäumnisse, Ignoranz und Unbeherrschtheit Spuren hinterließen – vor allem bei anderen – dann hilft es wenig, wenn andere Menschen noch größere Schäden angerichtet haben. Dann schäme ich mich – für meine Kirche, für mein Land, für mich selbst.
Da waren wir, da war ich achtlos. Da war unser, mein Blick auf die Welt und die Menschen ungnädig und ablehnend – und wie das ist, kennen wir als Christen und viele aus der DDR-Zeit nur zu gut:
Wie viele von Ihnen habe auch ich viel mit Menschen zu tun, denen Kirche fremd ist, bestenfalls taugt für alberne Witze. Daneben gibt es scharfe Kritiker, Einfältige und Ahnungslose, Enttäuschte und Verbitterte. Sie nennen uns Träumer oder geistig Stehengebliebene, wir nennen sie verlorene Söhne und Töchter.
Sie anzusprechen führt leicht zu Missverständnissen, scheint oft vergebliche Liebesmüh und reißt mitunter alte Narben tiefer Verletzungen auf. Sich wie Paulus des Evangeliums nicht zu schämen, das trägt da erstmal wenig aus!
Als der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx 2016 in Jerusalem beim Besuch der Moschee auf dem Tempelberg wie auch an der Klagemauer der Bitte nachkamen, ihr Amtskreuz ablegten, schlug die Empörung große Wellen: Kleinmut und Feigheit waren die mildesten Vorwürfe, die gegen sie erhoben wurden.
Wie hätte wohl ein Paulus gehandelt, der sich des Evangeliums nicht schämt – aber fast alles tut, um möglichst viele für den Glauben zu gewinnen: Durch Respekt, Friedenszeichen, Anpassung und Verzicht auf auch mal Verzichtbares? Was hätte er in dieser oder ähnlichen Situationen als seine Pflicht und Schuldigkeit gesehen?
Ich kenne die Antwort nicht. Ich sehe nur, wie vergeblich viele Bemühungen waren und sind, die Erosion des Glaubens in unserer Zeit aufzuhalten: Alternative Gottesdienstformen und flippige Lieder, lustige Events und engagiertes Einreihen in gesellschaftliche Bewegungen haben die Kirchen nicht voller gemacht.
Lautstarkes Poltern gegen den wie auch immer gezeichneten „Zeitgeist“, scharfe Kante gegen moderne Lebensweisen und Pamphlete zur „Rettung des Zigeunerschnitzels“ vereinen auch nur im Unfrieden und zeigen die dunkle Kehrseite eines Stolzes, der das Evangelium zwar in großen Lettern schreibt, aber kaum mehr im Herzen führt.
Ja, Paulus und sein Römerbrief, sie atmen großes Selbstbewusstsein, verbunden mit einer großen Bereitschaft, hinauszugehen und Neues zu wagen. Ewige Wahrheiten jedoch finden wir nur bei Gott, und nicht mal in unseren besten Absichten.
Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist nicht eine Partei, Ideologie oder Haltung, nicht eine meiner wechselnden Überzeugungen und Sehnsüchte, sondern eine mitunter verborgene Kraft Gottes: Nicht gegeben, damit wir sie uns stolz an die eigene Brust heften – wie kämen wir dazu?
Ich schäme mich des Evangeliums nicht, auch wenn es mich manchmal ziemlich alt aussehen lässt und dumm. Vor den Augen Gottes und der Welt mache ich ganz gewiss keine „bella figura“, die mich sicher und zufrieden durch die Welt gehen lässt.
Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, Juden und Griechen, Weise und Nichtweise, sie und mich. Eine Kraft, die Unterschiedlichkeit zulässt und doch im Glauben verbindet. Eine Kraft, die über unsere bescheidenen Fähigkeiten zu Einigkeit und Versöhnung unglaublich weit hinausgeht.
Gott nimmt mir in Jesus Christus die Anstrengung ab, mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu wollen, um mit ihm ins Reine zu kommen – das war Martin Luthers große Entdeckung:
Gott sieht mich in Jesus Christus gnädig an, wie es kein Mensch, selbst ich nicht vermag. Er erspart mir die naheliegende Scham des Ungenügens, er erspart mir die Angst und die Verzweiflung, die sich hinter mancher Überheblichkeit und Bitterkeit verbirgt, er führt mich ins Freie, hinaus ins helle Licht, wo ich mich sonst am liebsten verstecken würde – wie Adam im Paradies, als er sah, dass er nackt war, und sich schämte vor Gott, seinem Schöpfer.
Die Kraft Gottes hilft mir, meine Anstrengungen nicht zu verschwenden in vergebliche Beweise meiner Großartigkeit, sondern für etwas Anderes, Besseres einzusetzen: Für wohl überlegte Worte, wie Paulus sie fand, ganz ohne „missionarische Keule“. Für Annäherungsversuche, die das Gegenüber ernst nehmen, ohne sich selbst zu verleugnen.
Für Angebote, in denen Menschen Gott auf vielerlei Weise begegnen können, ohne uns selbst dabei ein Denkmal setzen zu wollen wie es sonst der Welt Brauch ist. Anders sein, als die Welt es ist, ja – aber nicht in Abgrenzung, sondern in Öffnung und Hinwendung zu denen, die Gott am Herzen liegen so wie wir. Da dürfen wir wie Paulus auch mal Enttäuschung aushalten, ohne gleich hinzuschmeißen.
Wie Paulus Frucht zu schaffen unter den Menschen, das ist ein zähes und mühsames Geschäft. Wer sich auskennt mit Pflanzen, der weiß, was alles dazugehört: Boden auflockern, Steine und abgestorbene Wurzeln beseitigen, nicht zu knapp unter der Oberfläche pflanzen, für ausreichend Licht und Nahrung sorgen – und damit leben zu lernen, dass Wachsen und Gedeihen nicht allein in unserer Hand stehen.
„Erzählen Sie uns mal von sich – was sie antreibt, worin sie einen Sinn sehen, was sie sich wünschen für die Zukunft!“ In Bewerbungsgesprächen beginnt hier immer ein Spiel, von dem beide Seiten wissen, dass es ein Spiel ist: Mit bestimmten Regeln, Erwartungen und meist absehbaren Ergebnissen.
Wie die Gemeinde in Rom wohl den Brief des Paulus gelesen hat? War er ihnen zu kämpferisch, zu diplomatisch, zu pharisäerhaft oder zu modern? Wie unsere Mitchristen, unsere säkulare Umwelt, die Gebildeten und Ungebildeten unter den Verächtern des Glaubens wohl unsere Botschaften hören und verstehen, wenn wir mit ihnen Umgang haben?
Früchte zu schaffen, dafür haben wir als von falscher Scham Befreite nun alle Kapazitäten. Wir dürfen stolz und dankbar sein, dass Gott uns dazu Kraft verleiht und wir nicht auf unseren Scherben stehenbleiben müssen. Wir dürfen losziehen und die Botschaft von seiner Kraft, der Kraft des Glaubens weitergeben.
Wir dürfen aufblicken zum Kreuz, wo uns seine Gnade entgegensieht in Jesus Christus, der für uns alles überwand, selbst unsere Verirrung und unsere tiefste Scham, damit wir das Leben haben:
Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben, wie geschrieben steht: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.