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Auszeit

Wenn man denkt, es geht nicht mehr, wird’s manchmal gleich nochmal so schwer: So jedenfalls muss es auf die Israeliten gewirkt haben, als ihre Situation in Ägypten immer belastender wurde. Harte Arbeit, mörderischer Leistungsdruck, das war das Eine. Unverständnis für die eigenen Bedürfnisse, Misstrauen und Feindseligkeit, das war das Andere, dem sie unter dem Pharao ausgesetzt waren.

Unser Text mit jener dreifachen Zusage Gottes – ich will euch wegführen, euch erretten, euch erlösen – er markiert einen Wendepunkt. Zuvor hatte Mose den Pharao darum gebeten, dem Volk Israel eine Auszeit zu gewähren: Nur ein paar Tage, damit es in der Wüste zur Ehre Gottes ein Fest halten könne. Ein bescheidenes Fest, mehr wäre auch kaum möglich gewesen, aber immerhin:

Mal wieder zusammenkommen; Abstand, Freiraum gewinnen vom ewigen Einerlei des Alltags; altvertraute Rituale pflegen, sich von ihrem Zauber tragen lassen; sich vergewissern, dass da noch mehr ist als gleichförmige Routine. Aber nein:

Des Pharao Herz war verstockt, und der große Herrscher kleinlich. Seiner Ansicht nach feiert nur der, der noch nicht richtig ausgelastet ist! Also: Der Urlaub fällt aus, das Arbeitspensum wird erhöht, und zu allem Überfluss auch gleich noch das erforderliche Material gekürzt. So handelt heutzutage kein kluger Unternehmer, aber fragen Sie mal Klinikpersonal oder in anderen Branchen nach, wie Menschen da mitunter mitgespielt wird!

Der Pharao sah sich im Recht: Wer nachgibt, wirkt schwach – also wird Härte demonstriert! Das Volk hingegen murrte wider Moses, ihren Anführer, denn er hatte sie zu dieser Idee mit dem Fest ja überhaupt erst angestiftet, und nun hatten sie doppelten Ärger. Schlechte Karten für den Gesandten Gottes, aber keine Chance: Gott meint es ernst, mit allen Beteiligten.

Entgegen allem Anschein ist diese ziemlich verfahrene Situation der Wendepunkt in Israels Geschichte und wird Grundstein ihres Selbstverständnisses: „Gott, der Herr, der sein Volk aus Ägyptenland geführt hat“ – das wird fortan ihr beständiges Credo sein, ihren Glauben prägen, ihren langen, leid- wie hoffnungsvollen Weg durch die Weltgeschichte bestimmen.

Ein Volk, an dem Gott so handelt, das so eine Geschichte mit ihm lebt, begreift sich völlig zu Recht als „Gottesvolk“. Es unterscheidet sich darin von anderen Völkern, hält die Erinnerung daran lebendig und tut seit jener Zeit gewissenhaft genau das, was der Pharao unterbinden wollte: Es feiert – große Glaubensfeste im Jahr, regelmäßige Gottesdienste am Sabbat.

So, wie Gott dem biblischen Zeugnis nach am siebten Schöpfungstag ruht, um sein gelungenes Werk zu betrachten, so legt auch das Volk Israel die Arbeit an einem Tag in der Woche nieder, um gemeinsam Gott zu gedenken, seine Worte zu hören, Lob, Dank, Bitte und Klage vorzubringen, zu beten – so wie wir Christen es tun, nur eben sonntags statt samstags.

Auch wir setzen damit bewusst ein Zeichen: Der neue Bund in Jesus Christus, die Versöhnung mit Gott durch seinen Tod und seine Auferstehung – das ist für uns und unsere Geschichte zu wichtig, weshalb wir einen „anderen Sabbat“ feiern. Denn bei aller selbstverständlichen Verbundenheit mit dem jüdischen Glauben – das christliche Verständnis ist schon nochmal ein etwas anderes; Gleichmacherei wäre hier doppelt respektlos.

Unterschiede müssen schließlich auch keine Gegensätze sein: An ihnen wird zunächst nur erkennbar, wer wir auch noch sind – bei allem, was uns wie alle Menschen gleich welchen Glaubens, welchen Geschlechts und welcher Herkunft ausmacht, mit hoffentlich gleichem Wert und gleichen Rechten, denn wir wollen schließlich nicht den Pharao spielen!

Der jüdische Sabbat, der christliche Sonntag, der muslimische Freitag: In der Gemeinschaft der abramitischen Religionen mit ihren identischen Wurzeln sind unterschiedliche Akzente durchaus von Bedeutung und zu beachten. Noch bedeutender allerdings ist der Gedanke dahinter: Im Rhythmus Gottes zu bleiben. Dem Takt der Welt etwas entgegenzusetzen.

Die Kühe auf der Weide, die Hühner im Stall, die können das nicht – die leben als einfache Geschöpfe in eigener Harmonie mit ihrem Schöpfer. Die neigen aber auch nicht wie wir zu der Versuchung des immer höher, schneller, weiter: Die halten sich nicht für so wichtig, dass sie immer per Smartphone erreichbar sein müssen. Die geben sich nicht jener schmeichelhaften Illusion hin, dass ohne sie und ohne Überstunden der Betrieb bald pleitegeht. Die müssen sich nicht jeden Tag neu beweisen, vor anderen behaupten und groß hervortun.

Einmal die Woche legt Gott uns das Handwerk – und das ist gut so. Das ist lebensnotwendig! Wer ist dieser Christian Weyer, wenn er mal nicht wie sonst am Computer sitzt oder Termine wahrnimmt? Was dann, wenn diese und andere Gewohnheiten unterbrochen werden? Wie ist das so, wenn die Geschäfte auch mal geschlossen haben, keine Amtsgeschäfte erledigt werden können?

Natürlich, nicht jeder begibt sich dankbar über solche Gelegenheiten in die Kirche – aber ich frage mich zB schon, was hinter jener häufigen Forderung nach geschäftsoffenen Adventssonntagen u.dgl. steht, oder ob der Unmut über die Corona-Einschränkungen nicht auch mit diesem Zurückgeworfensein auf sich selbst etwas zu tun hat. Da kriegt man es mit sich selbst zu tun – und dabei vielleicht auch mit der Angst zu tun, vor der Leere, dem Ungewohnten.

Dabei ist das gar keine so neue Erkenntnis: Die meisten Ehen- und Familienkrisen ereignen sich statistische gesehen ausgerechnet im Sommerurlaub oder an den Weihnachtstagen, ganz unabhängig von Pandemien oder sonstigem: Wenn Freizeit zur toten, weil unerfüllt bleibenden Zeit wird, dann ist das tragisch. Wenn wir ständig beschäftigt, unablässig bespaßt werden müssen wie kleine Kinder, dann gibt das Anlass zu großer Sorge. Immer öfter lese ich den Begriff „Unlimited“, unbegrenzt – doch im Grunde: Was für ein Etikettenschwindel!

Wer sind wir, wenn wir mal nichts tun? Der Sabbat, der Sonntag, er ist ein gutes Gegenmittel gegen die eben beschriebene Entfremdung des Menschen. Er lässt uns gewisse Bedürfnisse zurückstellen, damit wir uns nicht in ihnen verlieren. Er fordert uns heraus zur Ruhe, zur Betrachtung. Lässt unsere Ohren in der Stille neue Klänge hören. Führt uns zu all dem anderen, was nicht wir selber sind – was wir „ererbt von unseren Vätern“, was uns mit Menschen verbindet im Teilen von Hoffnungen, Sorgen und Erinnerungen, was uns gemeinsam trägt und unser Leben wertvoll macht, ganz unabhängig von allem Scheitern und Gelingen.

Im Absehen von uns selbst, im Austausch mit unserem Nächsten entdecken wir uns erst wirklich selbst. In Gottes Wort, in den Erzählungen und Psalmen, den Heilungsgeschichten und Gleichnissen, in den Briefen rührt es an unser Herz, da spüren wir einen wohltuenden Gleichklang – oder werden aufgeschreckt aus unserer Trägheit. Und in Jesus Christus, seiner Geburt, seinem Leben, seinem Tod wird Gott für uns begreifbar, und seine Auferstehung zu einer wahrhaft lebendigen Hoffnung.

Keine Musik ohne Pausen, kein Sprechen ohne Atemholen, kein Satz ohne Punkt und Komma: Erst durch die Unterbrechung entsteht ein Rhythmus, wird es lebendig und mitreißend, wippt der Fuß im Takt. Da ist es wie eine Erlösung, sich Zeit nehmen zu können, vielleicht auch Zeit geben zu können – wenn man kann, wenn man nicht in Beschlag genommen wird von einem Übermaß an Aufgaben, Pflichten oder schwierigen Lebensumständen.

Darum, sprach Gott zu Mose, sage dem Volk Israel: Ich will euch wegführen, ich will euch erretten, euch erlösen. Das war damals trotz allem ein guter Anfang: Es erinnerte daran, wie Gott es mit uns Menschen meint, und soll auch uns an diesem Sonntag wieder erinnern.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen