Aufräumarbeit

Ich wohne mit meiner Frau ja mitten in Plauen, wo gerade das Spitzenfest gefeiert wird: Zu den Festzelten auf dem Markt sind dieses Jahr auch noch Buden und eine Musikbühne auf dem Kirchhof dazugekommen, wir werden also von mittags bis weit nach Mitternacht gleich von zwei Seiten mit lauter Musik beschallt. Und wie immer, wenn ein großes Fest zu Ende geht, steht danach das große Aufräumen an: Pappbecher werden weggekehrt und Unrat beseitigt, bis alles wieder so schön und ordentlich ist wie zuvor.

Neben all dem Müll gibt es bei allen großen Festen, wo viele Menschen zusammenkommen, auch eine Menge Fundsachen: Manch einer hat seinen Regenschirm irgendwo liegengelassen, ein Schlüsselbund oder Portemonnaie gingen verloren. Zum Glück sind es meist nur Kleinigkeiten, deren Verlust man verschmerzen kann oder mit etwas Glück im Fundbüro wiederbekommt.

Ein Fest ist immer etwas Besonderes und eine Ausnahmesituation – ansonsten wäre es ja gar nicht auszuhalten, nicht nur wegen der lauten Musik. Aber wie ist das mit dem „Fest des Lebens“? Damit meine ich nicht Ostern, für das dieser Begriff auch gerne verwendet wird, sondern ich meine die Alltagsgestaltung von Menschen, von Christen wie Nichtchristen. Manchmal kommt es mir vor, als herrsche da tatsächlich immer eine „Ausnahmesituation“:

Da sind mit einem Mal so viele Termine zusammengekommen, dass ich alles neu ordnen muss. Der geplante Ausflug, das schon mehrfach verschobene Projekt, die versprochene Maßnahme im Haushalt – tut mir leid, ein andermal! Dann ein Hilferuf aus der Verwandtschaft, oder ein Kunde hat unerwartete Probleme – da muss man hin und kann nicht warten. Anderes bleibt dafür unerledigt, mal wieder. Es gäbe noch zahllose Beispiele, mit denen ich sie aber nicht langweilen möchte, zumal sie das alles bestimmt auch aus ihrem Alltag zu Genüge kennen!

Und so wägen wir ab, jeden Tag unseres Lebens: Was ist wichtig, was kann warten? Was wir nicht abwägen, wohl aber manchmal mit leisem Unbehagen merken, ist dass dabei auch so manches zu lange liegenbleibt. Und so gibt es auch bei unserem „Fest des Lebens“ neben einer Menge Spaß und ausgelassener Freude am Ende auch so manchen Müll wegzuräumen, Liegengelassenes und Verlorenes zu beklagen. Und tragischerweise sind das dann oft keine unwichtigen kleinen Gegenstände, sondern vor allem kostbare menschliche Beziehungen:

Menschen, die auf uns gebaut haben und enttäuscht wurden. Menschen, die einfach mal ein gutes Wort, einen Besuch oder etwas herzliche Nähe gebraucht haben, aber nicht bekamen. Menschen, denen wir wichtig sind, die aber in unserem Leben keinen Platz mehr fanden.

Dass wir uns nicht falsch verstehen: Ich möchte hier nicht die Abkehr von der Leistungsgesellschaft predigen. Ich weiß sehr wohl um den Schmerz vieler, die sich in Beruf und Ehrenämtern engagieren und dafür Zeit mit Freunden und Familien opfern. Ich bin dankbar für diesen Einsatz Einzelner, von dem so viele Menschen profitieren, oft ohne es recht zu wissen. Maria hat recht daran getan, sich zu Jesus zu setzen – aber von dem, was Martha derweil mühevoll in der Küche bereitet hat, haben am Ende alle gut und reichlich gegessen!

Aber man merkt bei so mancher Lebensbilanz, dass die Rechnung trotz aller Mühe nicht aufgeht: „Nur für andere da zu sein“, wenn man sich gänzlich in der Arbeit verliert, ist ein Irrglaube. Das ist Blindheit für das, was andere – Eltern, Ehepartner, Kinder, Kollegen und Freunde – im Verborgenen ebenfalls leisten, um uns dieses berufliche oder anderweitig hohe Engagement überhaupt zu ermöglichen.

Irrglauben und Blindheiten dieser Art sind leider verbreitet. „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst“, lesen wir im heutigen Predigttext. Wir leben immer auch auf Kosten anderer und sollten uns in unserem Wohlstand nicht überschätzen: Wir haben die Zeche dafür nur zum Teil bezahlt! Vieles haben andere aus unserem Umfeld beigetragen, und vieles in unserer globalisierten Welt übrigens auch ausgerechnet Menschen aus den ärmsten Ländern.

Um die Sünde und den Selbstbetrug, der perverserweise meist in Selbstgerechtigkeit mündet zu überwinden, ist ein bewährtes Mittel die Versöhnung. Ein Begriff allerdings, bei dem sich mir unwillkürlich die Nackenhaare sträuben: „Nun hab dich mal nicht so, lass mal gut sein, Vergeben und Vergessen“ – so leichtfertig reden vor allem die, die uns eben noch ohne Not das Leben zur Hölle gemacht haben und nun einen brüchigen faulen Frieden, eine unverschämt billige Gerechtigkeit einfordern. Tut mir leid, da bleibe ich unversöhnlich!

Und überhaupt: Wer muss sich mit wem versöhnen? Wo kann ich Versöhnung erwarten, wo bin ich es, der die ersten Schritte zur Versöhnung gehen muss? Kann man denn nicht einfach Recht und Gesetz walten lassen, damit wieder alles in Ordnung kommt?

Versöhnung hört sich so simpel an, und hat doch so viele Dimensionen. Vieles spielt hinein: Schuld und ihre Aufhebung, Gerechtigkeit und Gnade, Abschluss und Neubeginn. Im Kern steckt die Sühne. Wer von Versöhnung spricht, ohne diese Aspekte zu berücksichtigen, der will wohl eher vergessen, will bedingungslose Amnestie – aber das gelingt noch seltener und bringt erst recht nichts.

Das Sakrament der Versöhnung ist die Beichte, die wir darum auch in jedem Gottesdienst vollziehen, jeder für sich in seinem Gewissen und gemeinsam als bekennende Gemeinde vor Gott. Und darum bin ich auch da unversöhnlich, wo daran gerüttelt wird: Jesus hat uns doch alle lieb, ist doch alles schon erledigt, warum sollen wir uns noch Asche aufs fromme Haupt streuen?

Ja, das Beichtgebet ist alles andere als „trendy“: Es ist eine manchmal unbequeme Erdung, die uns zur Besinnung bringt, wer und wie wir sind, und warum das Kreuz über uns steht. Im Beichtgebet bitten wir auch nicht um Gottes reiche Gaben oder gutes Gelingen, sondern nur noch um eines: Um Gottes Eingreifen in unser Leben. Wir kommen da auf den Punkt:

Wir erklären unseren persönlichen Bankrott, den wir bei allem guten Willen unausweichlich erleiden. Wir drücken unsere größte Hoffnung aus, die allein bei Gott und niemandem sonst liegt. Nur im Glauben an seine Gnade und Macht geben wir unser ewiges Rechten und Richten wollen aus der Hand, nur in seiner Zusage werden wir frei von der erdrückenden Last unserer folgenreichen Verfehlungen und Versäumnisse, nur vor ihm als unserem Richter und Helfer können wir den Wunsch nach Vergeltung und Strafe aufgeben, ohne dass dabei Resignation und Unrecht aufs Neue triumphieren.

„Wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er selbst ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. Und daran merken wir, dass wir ihn erkannt haben, wenn wir seine Gebote halten… Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind.“

Das Beichtgebet wäre falsch verstanden, wenn man es vor allem als Erniedrigung hochstehender Menschen betrachtet. Es ist das ganze Gegenteil: Gott hat die Niedrigkeit seiner Magd, seines Knechts angesehen und versöhnt uns mit sich in Christus. Ein „fröhlicher Wechsel“, wie Luther schreibt, ein unglaubliches Wunder für Menschen wie uns, die doch nur schwer über ihren eigenen Schatten springen können.

„Damit unsere Freude vollkommen sei“, brauchen wir Zuwendung von außen – von Menschen, die uns nicht unsere Fehler und Versäumnisse nachtragen, sondern es immer wieder neu mit uns wagen. Und wir brauchen die Zuwendung von Gott, um uns durch ihn versöhnen zu lassen auch mit Menschen, die uns in unserer begrenzten Kraft überfordern.

„Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln doch in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.“ Auf welchen Wegen wandeln wir, in dunklen Stunden oder an hellen Sommertagen? Welche Wege gehen wir in den Tagen der neuen Woche, die vor uns liegt? Gebe Gott, dass es Wege sind, auf denen wir Versöhnung erfahren und wo wir Versöhnung möglich werden lassen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.