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Anlegestelle

Wann ist es genug? Zeit ist kostbar, so sagt man, man soll sie nicht verschwenden. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben – auch ein gern zitierter Satz! Und manche Dinge, ja, die haben einfach „ihre Zeit gehabt“, aber heute keine Bedeutung mehr. Wann ist es genug, wann ist der Moment gekommen, mit etwas abzuschließen und sich neu zu orientieren?

Die Frage ist zweischneidig, und das war sie auch damals, als die Pharisäer Jesus fragten, wann denn das Reich Gottes käme: Womöglich hatten sie genug von der römischen Besatzung, von den immer wieder aufflammenden Konflikten oder den selbst ernannten Heilsbringern, die damals in Scharen unterwegs waren und die Menschen verunsicherten.

Womöglich waren sie aber auch müde geworden, zermürbt von den vielen Jahrhunderten langen Wartens: Der Gott der Väter und Propheten, der Gott, der sie aus Ägyptenland und wieder zurück ins gelobte Land geführt hat, er lebte für die allermeisten nurmehr aus der Erinnerung, aus den Überlieferungen und Bräuchen der Alten. Die Frage lautet somit im Grunde nicht „wann“, sondern „ob“ das Reich Gottes überhaupt noch kommt!

Zukunftsvisionen bezeichnet man in der Kunst als „Utopien“ – als etwas, das keinen Ort in der gegenwärtigen Welt hat. „Utopia“ war auch der Titel eines berühmten Werkes des Humanisten Thomas Morus, der in den Wirren der Königsherrschaft im England des 16. Jahrhunderts eine ideale Gesellschaft schilderte: Er beschrieb, wie Menschen glücklich und harmonisch auf einer Insel lebten, unter paradiesisch anmutenden Bedingungen immerwährenden Friedens und gleichem Recht für alle, allein regiert von Anstand und Vernunft.

Die Botschaft des Thomas Morus war klar: So wie in Utopia dargestellt wünscht jeder sich die Welt, und wo und wie leben wir stattdessen? Es war eine unmissverständliche Anklage an die Regierenden jener Zeit wie auch eine Mahnung an die Bürger, die von anderen meist mehr erwarteten als sie selber zu geben bereit waren.

Was erwarten wir? Die Hoffnung so weit aufzuspannen wie wir Christen es tun, in unserem Glauben, in unseren Gebeten und in jedem Gottesdienst, das hat schon etwas Verwegenes! Wo Menschen ohne religiöse Vorstellungen einfach nur ein schönes Leben verbringen wollen, sich am mehr oder weniger bescheidenen Wohlstand erfreuen, die Gemeinschaft in Familie und Freundeskreis pflegen, da setzen wir ungleich größere Maßstäbe:

Schwerter sollen zu Pflugscharen werden, Wolf und Lamm friedlich beieinander liegen, Gerechtigkeit und Friede sich im Kusse vereinen und all die Tränen so vieler Menschen nicht tagaus tagein weiter ungesehen vergossen, sondern endlich abgewischt werden von liebender Hand – und wir wissen: Das wird nur Wirklichkeit in einem Reich, das nicht von dieser Welt ist. Die Welt, so wie sie ist, ist uns schlichtweg nicht genug; das Leben, wie wir es aus Gottes Hand empfangen haben und nach seinen Geboten leben, es verspricht viel mehr und verlangt darum nach mehr.

Das Reich Gottes – das ist für uns gleichsam die Summe dessen, was uns gut und heilsam erscheint, was dem sicheren Tod die Hoffnung auf neues Leben gegenüberstellt und ein unauslöschliches Licht in das Dunkel der Welt bringt. Das klingt ziemlich dick aufgetragen – aber ohne den Glauben, dass Gott so für uns und die ganze Schöpfung da ist, fühlen wir uns nunmal auch ziemlich arm und verloren. Wir wissen nur zu gut: Am eigenen Schopf können wir uns nicht aus dem Sumpf ziehen, ignorieren und wegschauen hilft am Ende niemandem. Oder sind „die anderen“, also die Nichtgläubigen einfach nur illusionsloser und tapferer im Ertragen allen Elends als wir?

„Woran du dein Herz hängst, da ist eigentlich dein Gott“ – auch Luther konnte sehr zweischneidig formulieren. „Mein“ Gott ist mir eigentlich schon eine Nummer zu klein: Ich will den Anker meiner Hoffnung schließlich nicht in das trübe Wasser meiner Launen und Vorstellungen senken. Mein Herz, mein Verstand – ich bin dankbar, wenn ich Gott damit erfassen und ihn spüren kann. Aber ich möchte keinesfalls meinen Glauben darauf beschränkt wissen, nicht nur meine eigene Armut verwalten, von der keine Hoffnung auf Dauer leben kann.

Gott und die Hoffnung auf sein Reich, das kommt nicht von mir. Das hat Gestalt angenommen für mich im Glauben, Reden und Handeln zahlloser Menschen, einst wie heute. Wir nennen das Kirche, Gemeinschaft der Heiligen – heilig deshalb, weil diese Menschen Heil erfahren und diese Erfahrung geteilt haben. Sie zeugen von der Veränderung, die möglich ist – jetzt schon und erst recht bei Gott.

Und wenn ich so Veränderung erwarte, dann verändere auch ich mich: Ich sehe anders auf mein Tagwerk, auf meine Mitmenschen, ich plane anders, wertschätze manches mehr und lasse leichter zurück, was letztlich unbedeutend ist.

Spricht man mit Christen anderer Länder, aus Gemeinden, die als Minderheit in der Diaspora leben, von Mangel, Verfolgung und Auflösung bedroht, also oft „das Ende vor Augen haben“, so spürt man, wie groß und lebendig die Hoffnung auf das Gottesreich dort ist: Zwischen all den kärglichen Resten, Trümmern und Fragmenten suchen sie ganz gezielt nach den Anzeichen des Anbruchs einer neuen Zeit, ja eines „Advents“, der für sie weit mehr ist als die Hoffnung auf Weihnachtsmärkte und festlich geschmückte, warme Stuben.

Für sie weht der Wind aus der Zukunft, und wenn ich auch sonst nicht tauschen möchte: Darum beneide ich diese Glaubensgeschwister schon! Finden wir erst dann die Kraft zur Veränderung, wenn es nichts mehr zu verlieren gibt, oder können auch wir Apfelbäume pflanzen, wo der Untergang herbeigeredet wird, können auch wir unseren Blick weiten, wo die Welt für viele schon am Gartenzaun endet?

Freilich: Fehlt der Raum für Heilserfahrungen, werden die Sinne stumpf dafür. Dann verändert sich allmählich auch die Erwartung. Die Ansprüche sinken, bis irgendwann auch die billigsten Versprechungen die Menschen in den Bann ziehen und falschen Propheten hinterherlaufen lassen.

„Wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein“: Bei einem Gewitter rechnen wir mit Blitzen, ohne sie genau berechnen und vorhersagen zu können. Unter dem Kreuz, mit der Hoffnung auf die Auferstehung, drei Wochen vor dem ersten Advent rechnen wir auf ähnliche Weise mit Gott an jedem Tag, zu jeder Stunde, für jeden Menschen – hin- und hergerissen zwischen Sehnen und Bangen, Aufbruch und Erschöpfung, Hoffen und Erleben.

Unser Alltag ist eine Zwischenzeit voll Unsicherheit: Dieses Bekenntnis mag nicht viel hergeben, man kann sich damit nicht schmücken oder brüsten. Es macht mich klein und schwach, unbedeutend in der Erscheinung, verglichen mit den lauten Marktschreiern und Endzeitpropheten unserer Tage. Aber das macht nichts: Gott macht das Kleine, macht auch uns groß: Sein Weg führt auch durch unsere Zeit in seine Ewigkeit, sein Frieden und seine Gerechtigkeit sind es, die mich wirklich überzeugen und auf die ich darum allein vertraue.

Am Ende dieses Kirchenjahres wird noch eines deutlich – das Ende jener Illusion, dass unsere Sicherheit und relativer Wohlstand ewig Bestand habe und unangreifbar sei. Nach drei Jahren Corona eine weitere unangenehme Lektion, die zum Nachdenken anregt: Mitten unter uns Menschen sind Angst, Wut und Zweifel größer denn je. Verzweiflung wird spürbar in dem Bemühen, festen Halt zu finden, irgendwo, einfache Erklärungen und Lösungen zu bekommen.

Wann ist es genug, wann ist der Moment gekommen, mit etwas abzuschließen und sich neu zu orientieren?

„Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“: Bald beginnt wieder ein neues Kirchenjahr, wir werden das Engelswort wieder hören, das einst Vorbote war für eine neue Hoffnung, für die Erfüllung großer, verwegener Erwartungen. Mitten unter uns sprach sich dies Wort herum, es wurde Fleisch in Jesus Christus, der herabstieg in diese Welt und in ihre tiefsten Abgründe, um für uns den Himmel zu öffnen. Eine neue Zeitrechnung begann, eine neue Perspektive tat sich auf: Denn das Reich Gottes ist mitten unter uns, und es reicht weit über alle Grenzen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.