Sie kennen das alle: Wenn der Fernseher nicht mehr richtig funktioniert, der Computer streikt oder das Handy komische Sachen macht, dann hilft meist nur eins: Ein radikaler Neustart. Akku oder Stecker raus, bis 10 zählen, dann wieder von vorn beginnen! Radikal, das kommt vom lateinischen „radix“, Wurzel: Wenn alles Herumdoktern und Flickschustern, alle Tricks und Kunstgriffe irgendwann nichts mehr bringen – dann hilft es nur noch, die Dinge von Grund auf neu anzugehen.
Der Ruf nach radikalen Veränderungen wird auch in unserer Welt immer vielstimmiger und lauter: Allzu lange wurden die Augen verschlossen vor gefährlichen Entwicklungen. Allzu lange freuten die Menschen in Industrienationen sich ihres Wohlstandes, ohne den Preis zu bedenken, den Umwelt, Drittländer und nachfolgende Generationen dafür zahlen müssen. Allzu lange galten Eigenverantwortung, Gemeinsinn und wissenschaftlicher Sachverstand als Selbstverständlichkeiten, auf die man sich jederzeit verlassen konnte.
Die einen sagen, wir müssen damit leben lernen – mit den Klimaveränderungen, dem Artensterben, mit Kriegen und Katastrophen, Pandemien und toten Geflüchteten im Mittelmeer. Andere meinen, es ist höchste Zeit, alles auf links zu drehen, alte Gewohnheiten aufzugeben und unserer Gesellschaft etwas zuzumuten, um sie vor Schlimmeren zu bewahren.
Und bei alldem, bei all den Emotionen und all der Dramatik steht schließlich auch die Frage nach der Glaubwürdigkeit im Raum – ist das alles nur Show, Hetze, billige Propaganda oder Ideologie? Alles nur Menschen, die dahinterstehen, daher ist die Frage durchaus berechtigt!
Entscheidend sind aber letztlich nicht die Fragen, denen wir uns stellen, sondern die Antwor-ten, die wir finden und uns zu Herzen nehmen. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, das Ebenbild Gottes – was wird in seiner Beurteilung stehen? Ein höflich-verschleierndes „Er hat sich stets bemüht“ oder ein deutliches „Hat den Anforderungen nicht entsprochen?“
Das Kirchenjahr ist abgeschlossen. Von Gericht, Buße und Umkehr wurde zuletzt gepredigt, und am Ewigkeitssonntag der Verstorbenen gedacht. Heute feiern wir 1. Advent, den Beginn des neuen Kirchenjahrs – wir gehen also vom jüngsten Gericht wieder zurück an den Anfang, zurück auf Los. Gott weiß um uns, weiß, was allein uns hilft: Ein radikaler Neustart!
„Adam, wo bist Du?“ – wie heute, so war es auch im Paradies nicht möglich, sich vor Gott zu verstecken: „Hast du vom Baum gegessen, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?“ – wie heute, so half es auch im Paradies nicht, dass Adam die Schuld auf Eva schob, Eva auf die Einflüsterungen der Schlange verwies: Das Ergebnis blieb das gleiche, und das Paradies, jener himmlische Sehnsuchtsort, war für sie und ihre Nachkommen verloren.
„Adam, wo bist Du?“ – was würden wir heute antworten, wir, denen die Erde und die Geschöpfe von Gott anvertraut wurden? „Die Erde gehört uns allen – so wie der Sand, den man am Grabe freundlich uns nachwirft allen gehört“ – so übersetzte Hanns Dieter Hüsch die Anfangsworte unseres Psalms. Bibelforscher sagen, es sei ein Wallfahrtspsalm, ein Königspsalm, David zugeschrieben, als die Bundeslade nach Jerusalem gebracht wurde.
Sie enthielt die heiligsten Erinnerungen des Volkes Israel: Die Tafeln mit den 10 Geboten, den Stab ihres Anführers Aron, das Manna, mit dem Gott sein Volk gespeist hatte auf dem langen, beschwerlichen Weg durch die Wüste ins gelobte Land. „Macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch“ – so oder so bleibt es eine Nummer zu groß, jenes Gotteszeichen, das da in das Zentrum der Stadt getragen wird:
Aus der Dunkelheit der Überlieferungen wird es ans Licht gebracht, aus der Vergangenheit in die Gegenwart, vom abstrakten Glaubensgegenstand beinahe mit Händen greifbar. „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe“ – bei uns, bei allen Menschen, dass er das Zepter übernehme und sein Volk und die ganze Schöpfung aus aller Verirrung und Heillosigkeit wieder zu sich bringe, „auf dass es ihnen wohlergehe“.
Er klingt festlich, dieser Psalm, und festlich stelle ich mir auch den Einzug der Bundeslade in Jerusalem vor, mit Pauken und Trompeten – so festlich, wie unsere Weihnachtsoratorien und Lieder in diesen Tagen erklingen. Eine Ouvertüre des Neuanfangs, die kaum mehr etwas zu erkennen gibt von all den Misstönen, die ihr vorangingen.
Und doch: Advent ist die Gegenbewegung von Himmelfahrt. Gott verzichtet auf alle Erhabenheit, steigt herab, doch nicht herablassend, wie vermeintlich große Menschen es gerne tun, sondern voll Liebe und Erbarmen: Er ist auf einer Rettungsmission für alle, die vom Weg abgekommen sind, auf Katastrophen zusteuern oder unter die Räder gekommen sind.
Er ist unterwegs auch zu denen, die mit ihrer Hoffnung am Ende sind, denen nicht mehr warm uns Herz wird bei allem Lichterglanz. Gottes Weg zu den Menschen führt darum auch über den Heiligabend, über die Geburt seines Sohnes in unsere Welt hinaus, geht tiefer: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“, so haben wir es vorhin bekannt.
Es gibt kein Versteck vor Gott, doch wir brauchen uns vor ihm nicht zu fürchten. Nicht vor seiner Größe und Unbegreiflichkeit, nicht vor seinen Wegen, die so anders sind als unsere. Nicht vor seiner Gerechtigkeit, die uns in seinem Sohn Jesus Christus vor Augen steht und frei macht von aller Selbstgerechtigkeit, allen Schuldzuweisungen, aller Verschlossenheit.
„Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen“ – das sind natürlich auch wir, Sie und ich! „Ob wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“, schreibt der Apostel Paulus später in seinem Römerbrief. Sie und ich, unsere Nachbarn und Nächsten, die Menschen im nahen Osten und in anderen fernen Ländern: Sein Wort, seine Herrschaft gilt allen und kennt keine Grenzen: Das ist der große Unterschied zu unserer bescheidenen Weisheit, unseren Überzeugungen, die wir ja so gerne auch anderen aufdrücken möchten.
Aber die und wir sind nicht die Herren der Welt, das wäre Aufschneiderei! In ihren wie unseren Worten, Werken und Gedanken spiegelt sich nur sehr bruchstückhaft die Hoheit und Heiligkeit Gottes wider. Darum ist Advent eine Zeit des Neuanfangs: Einsicht und Demut helfen uns, Gott wieder in den Mittelpunkt, ins Zentrum zu rücken. In seinen Geboten und seinen Verheißungen, in unserm Herrn, Bruder und Erlöser Jesus Christus, dessen Ankunft wir in diesen Wochen feiern, finden wir wieder Orientierung und Halt.
Also: Schluss mit dem scheelen Blick nach links und rechts. Schluss mit den immer neuen Vertröstungen, die nur immer bitterer schmecken. Schluss mit den Machtspielchen und angemaßten Deutungshoheiten:
„Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe“: Damit das große Wunder Wirklichkeit wird, auf das wir mit dem Volk Israel für alle Welt so sehnlich hoffen. Wir feiern keine „Tempel-Feste“ wie zu Zeiten der alten Könige: Wir wissen um die Flüchtigkeit der erhebenden Momente. Wir versinken allzu schnell wieder in Sorgen, in Fragen, für die sich so schnell keine befriedigenden Antworten finden lassen.
Wir vertrauen aber auf Gott und zünden eine Kerze an – getrost und voller Erwartung, dass der in unsere Mitte kommt, der Herr ist über alle Welt und Zeit. Wir haben sein Wort!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.