Die Kirche geht nicht immer mit der Zeit, so scheint es! Während im Einzelhandel schon die Vorbereitungen laufen, dass bald wieder Marzipan und Lebkuchen in den Regalen stehen und die ausgedehnte Vorweihnachtszeit losgeht, bekommen wir heute als Predigttext nochmal ein Osterlied zu hören:
Mitten im Hochsommer besingt Paulus (wie immer sehr wortreich und in kunstvoll verschachtelten Sätzen) das große Wunder der Auferstehung in Christus, und damit das Wunder unseres neuen Lebens als Christen.
Er führt es uns noch einmal eindrücklich vor Augen: Auf der einen Seite unsere vergeblichen Werke, unser versessenes Streben nach Ruhm, unser nachhaltig getrübtes Verhältnis zu Gott und der Welt. In dieser lebensfeindlichen Atmosphäre, sagt Paulus, ist kein Leben möglich!
Die verzweifelte Suche nach dem eigenen Wert, der ständige nervöse Drang zur Selbstbehauptung trotz dunkler Ahnungen um unsere sehr engen Grenzen: Dort erwartet uns der sichere Tod – und es braucht nicht weniger als ein Wunder, um uns vor ihm zu bewahren.
Dieses rettende Wunder ist einzig und allein Gottes Werk: Auferweckt in Christus, sind wir mit ihm erlöst und in den Himmel versetzt. Das ist ganz sicher nicht das Paradies auf Erden, aber wir finden uns auf neuen Längen- und Breitengraden im geistigen Sinne wieder, wo eben nicht der Tod das letzte Wort hat, sondern das schier unerschöpfliche Übermaß von Gottes Barmherzigkeit: Wo seine Liebe, Güte und Gnade alles bestimmen, wo wir frei werden von Todesfurcht, frei werden zu heilsamen Handeln an uns und anderen.
Dieses Wunder ist allein Gottes Werk. Wir, auf diesen sicheren Boden gestellt, sind Gottes Werk. Unser Glaube, der uns leitet in diesem lichtvollen neuen Leben, ist Gottes Werk. Das soll die Gemeinde in Ephesus nicht vergessen, und das sollen auch wir hier im Vogtland uns hinter die Ohren schreiben, auch wenn Ostern nun schon einige Monate hinter uns liegt!
Ephesus, das war zu Paulus Zeiten eine Metropole, wo Menschen aller Herren Länder und die unterschiedlichsten Kulturen zusammenkamen. Da war so eine Erinnerung sicher sehr wichtig, um die eigene christliche Identität nicht zu verlieren. Hier bei uns geht es hingegen ja vergleichsweise geordnet und gesittet zu, entsprechende Traditionen haben ihren festen Platz in breiten Kreisen der Gesellschaft wie natürlich auch im Gemeindeleben.
Und doch beschleicht mich leiser Zweifel, wenn ich die Worte des Paulus für uns einfach so zu übernehmen versuche: Ist das wirklich noch unsere Sprache, unsere Denkwelt? Klingt das nicht ein bisschen eigenartig, diese hochdramatische Gegenüberstellung von Tod und Leben, jener scharfe Gegensatz von vorher und nachher, von denen und uns?
Vor 61 Jahren begann der so folgenreiche Mauerbau. Ich kam erst ein paar Jahre später zur Welt, drüben im Westen. Für mich und meine Landsleute schien vieles selbstverständlich, was in der DDR schlichtweg unmöglich war. Und damit meine ich nicht nur Konsumgüter, Bananen und Fernreisen: Wie verschieden die Lebensrealität, das Lebensgefühl hüben und drüben war, das wurde mir erst viel später in Gesprächen mit meiner Frau so richtig klar!
Nun war das freilich eine vor allem politisch bestimmte Trennung, mit vielen Auswirkungen bis in die Alltagsgestaltung und die jeweilige Mentalität, doch immerhin: Hat der christliche Glaube, haben die Kirchgemeinden in Ost und West dank einer tieferen Verankerung nicht auch Brücken gebaut, über die Mauer hinweg, über all die Jahre bis zur Wiedervereinigung, an der die Christen hierzulande bekanntlich nicht unbeteiligt waren? Ja und nein:
Die Trennung von Ost und West hatte weitreichende Folgen für die Weitergabe bzw. das Verschwinden des christlichen Glaubens in den Familien, wir spüren die Auswirkungen noch heute, sind hierzulande gesellschaftliche Minderheit geworden und geblieben in einem Maß, das westdeutsche Glaubensschwestern und -brüder erst allmählich voll erfassen können.
Ich erwähne all das, weil dieser Hintergrund, dieses Geschehen auch dazu führt, dass wir das unbestrittene Wunder unseres Glaubens mit sehr unterschiedlichen Farben zeichnen. Was heißt es beispielsweise, wenn Paulus schreibt, dass wir „tot waren in Sünden“? Und was verstehen wir mit unseren jeweiligen biographischen Prägungen darunter, „gerettet“ zu sein? Wo sehe ich Gottes Werk in meinem Leben, wo spüre ich seine Gnade am deutlichsten?
Mit solchen Fragen verbindet sich viel Eigenes und Individuelles. Schnell kommt es da zu Kränkungen, Verletzungen, schnell zerbricht Gemeinschaft, wenn da etwas kleingeredet wird, die Ernsthaftigkeit unseres Glaubens in Zweifel gerät! Zu leicht geraten wir dann in eine starre Verteidigungshaltung, um nicht noch mehr preiszugeben, oder wir resignieren und überlassen Ostern und Weihnachten ganz den illustren, aber inhaltsleeren Ritualen.
Paulus war da freier: Seine multikulturelle, multireligiöse Umwelt bot Raum für die neuen christlichen Predigten. Seine Anknüpfung an den Bund Gottes mit Israel, die Überschreitung der Grenzen von Völkern, Männern und Frauen, Kleinen und Großen vor der Welt aufgrund jener großen Liebestat Gottes – das war eine Botschaft, die ankam und Interesse weckte, die Grundstein wurde für bald überall wachsende Gemeinden und das ganze Christentum.
Ob es uns auf diese Weise in der heutigen Welt, mit ihren ganz eigenen Herausforderungen noch einmal gelingen kann, Brücken zu bauen über Grenzen und Mauern hinweg? Ob eine solche Mehrsprachigkeit in Glaubensfragen es uns wieder ermöglicht, wie Paulus damals von Tod und neuem Leben zu sprechen, ohne dass es den meisten fremd und rätselhaft klingt?
„Wie tot“ haben sich viele Menschen in den letzten zwei Jahren gefühlt, als die Rücksicht vor dem Leben einen hohen Preis forderte: Die Umgewöhnung, die Isolation, der Verlust von selbstverständlich Scheinendem. „Wie tot“ komme ich mir manchmal vor angesichts dessen, was andere Menschen in der Welt Unvorstellbares erleiden müssen aufgrund humanitärer Katastrophen, Naturgewalten und Kriege, manchmal gleich nebenan bei uns.
Erst der Kranke weiß den Arzt zu schätzen, sagt ein Sprichwort. Nur der Zöllner ging gerechtfertigt nach Hause, nicht der Pharisäer, wie wir vorhin im Evangelium gehört haben. Das sind unbequeme Worte, umso mehr, wenn wir unseren Glauben hart erkämpfen und verteidigen mussten: Das will ich anerkannt wissen, und nicht ins „zweite Glied“, auf eine Stufe mit solch christlich völlig Unbedarften gestellt werden – schließlich sind wir doch schon gerettet!
Rettungsgeschichten geht oft eine Vision, ein Traum voran – bei den Propheten und Vätern Israels, bei den Aposteln bis hin zu den Reformern neuerer Zeit. Mein Traum ist nicht die vollendete Perfektion auf Erden, ist nicht ein „seht-her-wir-hatten-recht“ von uns Christen. Mein Traum ist nicht der Triumph unserer Werke, unserer Meinungshoheit oder vermeintlichen Überlegenheit. In so eine Abwendung von Gott, in so eine tödliche Falle dürfen wir nicht wieder geraten!
Das rettende Wunder bleibt ein Wunder, und ist einzig Gottes Werk. Es kommt allein aus dem Übermaß von Gottes Barmherzigkeit. Unsere Antwort darauf kann darum nur Demut sein – Demut, die ihre ganz eigene Würde und Wert hat und vertrauensvoll in die Zukunft schaut. Kein Wort mehr von „vorher“ und „nachher“, von „denen dort“ und „uns hier“!
Das klingt ganz einfach, ist aber alles andere als eine leichte Aufgabe: Wie fremd letztlich wirkt Gottes übergroße Liebe auf uns, wie ungeübt sind wir im Umgang mit der geschenkten Freiheit, welch großen Mut erfordert es, offen und geschwisterlich unserem Nächsten zu begegnen. Das ist die Schule des Glaubens, und ich komme mir bis heute oft genug wie ein Schulanfänger vor, auch und gerade als „Kind Gottes“.
„Wir sind sein Werk“ – das griechische Wort dafür lässt sich auch übersetzen mit „Kunstwerk, Handarbeit“: Wir, sie und ich und all die anderen von Gott geliebten Menschen sind also kostbare Originale, und haben darum einen eigenen, besonderen Wert.
Leben aus dem Geschenk der Gnade, der Taufe, des Glaubens: Das wiederum ist das größte, ja, ist im Grunde das einzige Werk, das wir in Gottes Namen wirklich tun können! Dann ist es nicht unmöglich, dass es in dieser Welt hier und dort wieder etwas gnädiger zugeht. Dann leben wir befreit aus der Kraft der Auferstehung, dann feiern auch wir Ostern ganz ungeniert mitten im Sommer, zu jeder Zeit und an jedem Ort. Dann geben wir unserem Gott die Ehre.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.