Da müsste ein Wunder geschehen! Wie oft hört man diesen Satz, und tatsächlich: Wie oft steht man hilflos vor bedrückenden Tatsachen, die unabänderlich scheinen. Und wie kann es anders sein, dass Menschen angesichts von Krankheiten, Armut und Leid nach den Ursachen fragen:
Es müsste ein Wunder geschehen, oder alle Menschen müssten blind sein, wenn solche Fragen plötzlich keine Rolle mehr spielten. Die Probleme der Welt und unserer Mitmenschen lassen uns nicht kalt – Gott sei Dank! Wir fühlen uns betroffen, angefragt, spüren eine tiefe Verlegenheit und suchen nach Erklärungen. Das ist ganz natürlich, und menschlich im besten Sinne.
Was wären das für Jünger, die Jesus nachfolgen, an einem blinden Bettler aber achtlos vorübergehen? Nein, die Jünger haben natürlich Augen auch für das Elend: Sie nehmen den Blinden wahr, und sie nutzen die Gelegenheit, ihren Herrn mit einer der drängendsten Fragen zu konfrontieren: Woher das Leid? Warum die Not?
Doch wie so oft mischt sich in diese an sich teilnahmsvolle Frage etwas Fremdes, etwas Unangemessenes hinein: Geht es den Jüngern tatsächlich um den blinden Bettler, oder geht es ihnen nicht vielmehr um eine schöne runde Erklärung, die einen besser schlafen lässt? Wie oft wird angesichts von Problemen nach Antworten gesucht, die in Wirklichkeit doch nur dazu dienen, sich guten Gewissens abwenden zu dürfen!
In dem Buch Hiob tritt das ganz deutlich zu Tage, als die Freunde dieses frommen alten Mannes ihn besuchen kommen. Sie haben von seinem schrecklichen Geschick gehört, sie sehen ihn vom Schmerz gezeichnet. Doch niemand hält seine Verzweiflung lange aus, alle fangen früher oder später an, ihn zu belehren und dabei vor allem das eigene Weltbild zu retten.
Sicher hat auch schon der eine oder andere von Ihnen Ähnliches erfahren, wenn Verlust des Arbeitsplatzes, Krankheit oder familiäre Sorgen das Leben überschatten. Wer den Schaden hat, braucht für das weitere nicht zu sorgen: Da bekommt man mitunter die merkwürdigsten Erklärungen zu hören, warum es gerade so und nicht anders kommen konnte – Hauptsache, das eigene Selbstverständnis, die eigene Sicherheit bleibt unversehrt und rein!
Da werden aus Samaritern Schriftgelehrte, da wird aus Anteilnahme kaltherziges Schubladendenken, da werden ins Vertrauen gezogene Freunde und Verwandte zu unbestellten Richtern über das Leben: Im Zweifel gegen den Angeklagten! Das ist leider ganz natürlich, und menschlich auch, wenngleich im weniger guten Sinne:
Wo ich keine Hoffnung für andere sehe, wird mir schnell selber bange: Kann womöglich auch ich in eine solche Situation geraten, einfach so, von heute auf morgen, ohne erkennbaren Grund? Eine beängstigende Vorstellung, mit der sich niemand so leicht anfreundet. Wo bleibt da die nötige Sicherheit, wo bleibt da die Gewissheit, das eigene Leben steuern zu können?
So mancher Ruf nach Gerechtigkeit ist daher nichts weiter als ein Ausdruck von Angst. Es ist die Stimme der Furcht, ausgeliefert zu sein, abhängig zu werden von der Gnade anderer, die auch lieber geeignete Auswege suchen als sich mit unangenehmen Tatsachen auseinanderzusetzen.
Liebe Gemeinde, da müsste schon ein Wunder geschehen, dass Schuldfragen zurücktreten vor Lösungsversuchen, dass Glaube vor den Zweifel tritt, und dass meine gesicherte Existenz sich wirklich öffnet für die verstörende Not anderer. Und so ist es auch nicht weniger als ein Wunder, wenn wir in unserem Leben Raum geben für die Werke Gottes: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“
Am blinden Bettler, vielleicht auch an seiner Heilung, und vielleicht dann auch an dem Glauben, zu dem er schließlich findet: Darin soll Gott sich offenbaren! Darin, und nicht in unserer ängstlichen Vorstellung von kalter Gerechtigkeit, darin will Gott sich zeigen als der, der er ist und als der, dem wir uns anvertrauen dürfen.
Das Verstörende dabei ist, dass Gott sich eben nicht nur als Heiler von Krankheit und Lehrer des Glaubens zeigt. Neben diesem heilenden, „lieben“ Gott des Predigttextes steht unübersehbar auch der Gott, der Krankheiten, der Leid und Schmerz zulässt. Der Gott, der hier ein Wunder wirkt, ist auch der Gott, der andere blinde Bettler am Straßenrand sitzen lässt, der Gott, der Heilung versagt, wo sie erhofft und erbeten wurde. Der Gott, der uns tagtäglich auch vor den Ungerechtigkeiten der Welt erschauern lässt.
Welche Erklärung bietet sich da an? Viele Menschen machen es sich einfach und streichen Gott kurzerhand aus ihrer Vorstellung. Wer den Blick in die Tiefe scheut, wird auch kaum merken, was er sich damit versagt und in welche Armut der
Mensch damit sinkt. Viele Menschen aber, vor allem die, die wechselvolle Erfahrungen im Leben sammeln mussten, können sich dem gerade nicht entziehen: Gerade in den größten Krisen finden sie zum Glauben – nicht, um den Schmerz und die Angst zu betäuben. Das Zeichen des Gekreuzigten steht für das ganze Leben, für eine Dimension, die billige Vertröstungen niemals erreichen können.
Die Ungerechtigkeit der Welt, Schmerzen und Tod werden am Kreuz nicht verleugnet, sondern springen uns dort vielmehr direkt ins Gesicht. Vor diesem Hintergrund lässt sich nichts schönreden, die Flucht in eine falsche Gerechtigkeit, wie die Freunde Hiobs sie versuchen, sie gelingt hier nicht. Das Kreuz stellt uns vor die Wirklichkeit der Welt wie vor die Wirklichkeit Gottes, in ihm offenbart sich die düsterste Realität mit dem Licht der neuen Schöpfung.
„Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“. Krankheiten, Unglück, Enttäuschung trüben oft den Blick, können aber auch „Schlüssel-Erlebnisse“ sein. Genau so können Glück, Wohlstand und Absicherung nicht nur den Blick frei werden lassen, sondern auch stumpf und träge machen und den Bereich des Vorstellbaren einengen. Und genauso können auch die Werke Gottes vielfältig, herrlich wie erschreckend sein: Der Schöpfer von Tag und Nacht, Finsternis und Licht begegnet uns nicht nur dort, wo wir ihn erwarten und ihm die Tür offensteht.
Darum sollten wir auch nicht nach Sünde fragen, wo es dunkel ist, und Gottes Wort nicht nur bei den Glücklichen wohnen lassen. Gottes Gerechtigkeit ist eine andere als die der Welt, und seine Kinder sind auch die verlorenen Söhne. Hier richtet nicht einer über den anderen, die Liebe zum Nächsten interessiert hier mehr als Ansehen und Macht, da bestimmt nicht mehr die falsche Furcht das Handeln. Furcht wovor?
Abhängig zu sein von der Gnade anderer, die Zügel des Lebens aus der Hand geben zu müssen – dass dies manchmal unvermeidbar ist, erfahren wir gerade in schweren Stunden unseres Lebens oder sehen es bei unseren Mitmenschen. Gott führt es uns vor Augen. Wer dieser Tatsache ins Auge zu blicken vermag, der wird frei von falschen Zwängen, ja, der wird „sehend“ wie unser blinder Bettler im Predigttext – und kann vieles erkennen, was vorher nicht deutlich war:
Eine Gemeinschaft von Menschen, die sich unter die Gnade Gottes stellt. Die sich ihrer Hoffnung nicht schämt, die einander respektiert, die frei ist von falschen Zwängen. Eine Gemeinschaft von Menschen, die in Gebet und Nächstenliebe ihr kleines Licht erstaunlich hell leuchten lassen, und die das Salz der Erde sind in ihrem Glauben, der die Grenzen der Welt kühn übersteigt.
Zeichne ich hier ein zu ideales Bild von Kirche und Gemeinde? Sicherlich, wenn ich die dunklen Farben, die Schattierungen und unschönen Flecke dabei unbeachtet lasse. Wir sind Bettler, das ist wahr – auch als Gemeinde und als Christen. Doch hieß es nicht auch beim blinden Bettler: „Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“?
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.